Beirut – Meeting the Saints

Claudia Basrawi wurde in Beirut geboren. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Während und nach einem Rechercheaufenthalt in Beirut in der Artist Residency marra.tein entstanden Texte und Zeichnungen – das Projekt wurde vom Senat für Kultur und Europa gefördert. Ein Buch und eine Lecture Performance sind in Planung. www.claudiabasrawi.wordpress.com

Von Claudia Basrawi

Auf dem Hinweg ist alles noch ganz einfach – Treppe runter, links auf die Armenia Street, die irgendwann in die Rue Gouraud mündet, über den Märtyrerplatz Richtung Stadtzentrum, Down Town Beirut und schließlich die Küstenstraße entlang bis nach Hamra, der Gegend, in der damals meine Familie gelebt hat, lange vor dem Bürgerkrieg. Die Strecke ist touristentauglich. Touristen sind auch die einzigen, die so eine Distanz zu Fuß zurücklegen würden, und ich natürlich, denn obwohl ich in dieser Stadt geboren wurde, bin ich hier fremd und bewege mich auf weitgehend unbekanntem Terrain. Auf dem Weg zurück umgehe ich die Küstennahe Region. Ich halte ein „Service“ an, ein billiges Taxi, das man sich mit anderen Fahrgästen teilt. Der Fahrer sagt, dass mein Viertel nicht in seiner Richtung liegt. Ich stehe mitten auf einem stark befahrenen sechsspurigen Highway, ohne Ampel als Schutz. Also versuche ich, mich bemerkbar zu machen. Endlich fahren die Autos langsamer, man gibt mir Zeichen, dass ich gehen kann. Direkt hinter dem Highway ist ein Fußgängertunnel, an dem Gemüse verkauft wird. Ich frage eine alte, gebeugte Frau nach dem Weg, doch ich verstehe sie nicht, und sie scheint mich auch nicht zu verstehen. Neben einer Garage, in der Scooter repariert werden, behalten zwei alte Männer die Lage im Blick und plaudern nebenbei. „Ha! Ein Fußmarsch zurück nach Mar Mikhail? Ist vielleicht nicht wirklich weit, aber zu erklären, wie man dort hinkommt, ist schon etwas kompliziert.“ „Ich will auch nur die ungefähre Richtung wissen“, sage ich. Die Männer zeigen Richtung Küste.

In „time out“ schreibt jemand über Beirut: „watch with dismay as chain-smoking drivers blast out Arabic oldies and zig-zag their death-defying way through Beirut’s Kamikaze traffic.“ Das kann ich nicht bestätigen. Ich habe nicht einen Taxifahrer rauchen sehen. Mein letzter Taxifahrer hatte zwar eine Zigarette im Mund, aber er hat sie nicht geraucht. Und mit Kamikaze hat der Verkehr von Beirut nichts zu tun. Es ist so, dass in diesem Flow alle sehr wachsam sind, denke ich, oder es funktioniert anders. In etwa so, wie man automatisch die Tasten findet, ganz gleich ob Klavier oder Computer-Keyboard. Das muss man üben, und irgendwann klappt es, auch bei mir.

Es klebt so eine leichte Schicht aus Meeresluft und Abgasen über allem. Ich trinke aus einer kleinen Flasche Wasser, die ich im Tabakladen gekauft habe und ruhe mich aus, betrachte die Gegend und die Menschen. Innerlich bin ich aber schon auf dem Sprung, das spüre ich. Es gibt gar keinen Grund zur Eile. Dieser Moment allein bietet genug Abwechslung. Manchmal ist es viel langweiliger, Tanzenden in der Disko zuzusehen, besonders wenn das Musikstück länger als fünf Minuten dauert, dann möchte ich umschalten, auf einen anderen Kanal, mit anderen Sounds. Ich bin stumm und führe nicht mal Gespräche mit mir selbst. Ich bin allein. Das letzte Mal Beirut, es waren nur ein paar Tage mit meinen Freunden, haben wir im Hamra, in Westbeirut, in einem Hotel gewohnt. Wir fühlten uns lässig, wir waren zu dritt. Jetzt wohne ich im Ostteil der Stadt. Vor meinem Haus schwebt ein riesiges Neon-Kreuz, es leuchtet grün, wenn es dunkel wird. Dieser Stadtteil ist christlich dominiert und Sitz der maronitischen Kata’ib Partei . Während Westbeirut ein religiös gemischtes Ambiente zu bieten hat, mit Gebetsrufen und Kirchenglocken.

Der Märtyrerplatz, der Ost- und Westbeirut voneinander trennt, ist ein Parkplatz und ein Loch mit Steinen darin. Die Steine sind Ruinen aus der Römerzeit. Ich werfe nur einen sehr kurzen Blick darauf. Sie sagen mir nichts, es sind wirklich nur Steine und Bruchstücke von Säulen, dazwischen hier und da eine leere Plastikflasche. Ich muss an Köln denken. Das Hotel Le Gray ist der einzige Ort, an dem hier morgens um halb elf schon ein bisschen was los ist. Die Leute sitzen draußen auf Caféhausstühlen zurückgelehnt mit überschlagenen Beinen. Männer in schlichtem Kaschmir und Frauen mit Louis-Vuitton-Handtaschen. Große Deals lassen sich locker am Telefon erledigen. Die alten, libanesischen Stadthäuser dieser Gegend sind komplett renoviert oder rekonstruiert. Die meisten Appartements scheinen allerdings leer zu stehen. Kein Lüftchen bewegt die feinen Draperien vor den Fenstern. Ein Teil von Downtown Beirut wird von Soldaten bewacht. Autos haben nur bedingt Zugang.

Ich sammele täglich diese Eindrücke und sortiere sie für mich. Im Hinterkopf stelle ich mir immer die Frage: „Was wäre wenn?“ Was wäre, wenn meine Eltern mit mir hier geblieben wären? Wie wäre mein Lebensweg verlaufen? Wahrscheinlich wären wir in Hamra geblieben. Viele Leute, die nicht ausgewandert sind, haben auch ihr angestammtes Viertel nicht verlassen. Und man begegnet in den verschiedenen Stadtvierteln tatsächlich ganz unterschiedlichen Menschen. Das geht soweit, dass die Gegenden im Süden, die von Amal und Hisbollah dominiert werden, und über die manche sagen, dort regiert der Iran, von Leuten aus den anderen Vierteln nie oder selten betretenen werden. In anderen Gegenden wird man wiederum kaum einem Turban tragenden Mann begegnen und Frauen mit Kopftuch sind auch eher die Ausnahme. Und dies sind nur die Äußerlichkeiten. Der Hamra-Distrikt hingegen ist sehr gemischt. Im Ostteil, in Monot, Mar Mikhail, Gemmayze, geht man aus, da befindet sich die junge Party- und Clubszene, sie reicht bis in das Hafengelände hinein. Mal ist das eine Viertel mehr angesagt, mal das andere. Viele Frauen hier sind ohne männliche Begleitung unterwegs. Sie trinken Weißwein oder Cocktails in der Happy Hour, haben aufgespritzte Lippen und Fillings, selbst wenn sie noch relativ jung sind. Alter scheint in diesem Fall keine Rolle zu spielen. Es ist eine Mode. Diese Lippen fallen mir immer als Erstes in Auge. Sie geben dem ganzen Gesicht einen Charakter, der es erschwert, Menschen von einander zu unterscheiden. Ähnlich wie bei einem Schnurrbart oder dem Hipster-Vollbart. Auch die Nasen sind operiert, was dazu führt, dass die Sprache nasal klingt, obwohl das Arabische ja eher einen gutturalen Klang hat.

Während ich selbst nur ein einziges Mal Pause mache im Laufe meiner vier Stunden Fußmarsch durch die Stadt, sehe außer den Damen, die am späten Nachmittag die Happy Hour im blauen Licht genießen, Arbeiter im Park unter dem Grün der Bäume gemeinsam essen. Auch auf der Straße in der Nähe des Regierungspalastes sitzen Arbeiter in einer kleinen Runde auf dem Boden und teilen das Essen miteinander. Es sind kleine Schalen mit verschiedenen Speisen und Fladenbrot.

Tala lädt mich ein, zu einem Dinner in der Nähe zu kommen. Makan heißt der Ort. Bei der Einrichtung, denke ich an die Wohnung meiner Familie, damals 1962 in der sechsten Etage in einem Neubau in Hamra. Könnte sein, dass hier ein Tisch oder ein Stuhl aus unserem Wohnzimmer steht. Die 50er und 60er sind modisch stark vertreten und es gibt genug Handwerker, die ein altes Möbelstück restaurieren.

An diesem Abend wird im Makan persisches Essen serviert, ein drei Gänge Menü. Es gibt hier jede Woche kulinarische Themenabende. Ich sitze schon über eine halbe Stunde allein an einem der Tische draußen im Garten, Tala taucht nicht auf. Auch sonst ist es noch recht leer. Am Nebentisch sitzt bald eine blonde Frau und beschäftigt sich mit ihrem Smartphone, nichts ungewöhnliches. Da ich kein Netz habe und auch nicht nach dem Passwort fragen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich umzuschauen. Die Frau am Nebentisch bekommt bald Gesellschaft, während meine Arme einfach nur auf dem Tisch ruhen und meine Hände ein kleines Fingerballett proben. Ich überlege, ob ich wieder gehen soll. Irgendwann höre ich, wie sich die kleine Gesellschaft auf Englisch unterhält und der Name Tala fällt. Man fragt sich, wo sie bleibt. Ich fasse Mut, stehe auf und stelle mich meinen Nachbarn vor. Bald wird klar, dass wir tatsächlich mit der selben Tala verabredet sind und so kommen alle herüber zu mir an den größeren Tisch. Ich fühle mich entsetzlich unlocker, so wie Peter Sellars in „Der Partyschreck“. Als ob es einen bestimmen Verhaltenscode in dieser Gruppe gäbe, den nur ich nicht kenne. Louay, ein junger Libanese mit äußerst wachem Geist bestellt uns eine Flasche Rotwein, nur für ihn und mich. Der Wein trägt den Namen „Paradis Qanafar“ und wird in der Bekaa Ebene angebaut. Die anderen trinken Gin Tonic. Als Tala endlich auftaucht, habe ich mich bereits mit allen ein wenig bekannt gemacht. Wir sind sieben Personen und ähnlich wie die Arbeiter auf der Straße teilen wir uns das Essen. Es ist nur viel, viel teurer, 25 Dollar pro Person und 40 Dollar die Flasche Rotwein. Dia­na, die auch aus Deutschland kommt, sagt irgendwann. „Ich verstehe sie nicht, diese libanesische Ökonomie. Vieles ist so teuer und dabei gibt es so viel Armut.“ Die Armen oder weniger Wohlhabenden leben jedoch in ihren Vierteln und haben ihre eigenen Preise. So denke ich. Und die ganz Armen schicken ihre Kinder hier her, damit sie nachts dem Partypublikum Rosen verkaufen. Wenn man sich selbst versorgt, ist das Essen zumindest billiger als in Berlin. Als ich Louay frage, was die Beiruter oder Libanesen über die Zukunft denken, sagt er ohne zu zögern: „Das Land verlassen, auswandern.“ Er lacht. Ob er das Land auch verlassen will? Zumindest interessiert ihn die Stadt Beirut, die Architektur und die Fehler und Rücksichtslosigkeiten. Er spricht von der Aufbruchstimmung vor dem Bürgerkrieg, den 60er Jahren, als Christen und Moslems in Westbeirut, in Gegenden wie Hamra lebten und Leute wie auch mein Onkel an der AUB Agrarwissenschaften studierten, um etwas zu bewegen, zum Beispiel die Landwirtschaft zu modernisieren. Zum Glück würde sein Name „Louay“ heute keine Rückschlüsse mehr auf seine Religionszugehörigkeit zulassen. Die Leute, die wissen wollten, zu welcher Gruppe er gehöre, müssten ihn schon direkt fragen.