berliner szenen
: Umkämpfte Ressource in der AGB

In der Amerika-Gedenkbi­blio­thek (AGB) gibt es ein gut gehütetes Geheimnis. Hinter den Lesesälen gibt es diesen Gang, von dem einige kleine Kammern abgehen. In diesen zwei, drei Quadratmeter großen Zimmerchen, die etwas von Mönchszellen haben, stehen die letzten Abspielgeräte der Bibliothek für die Medien, die vor noch nicht allzu langer Zeit das Herz der audiovisuellen Sammlung waren. Ein Plattenspieler. Ein Kassettenrekorder. Ein CD-Player. Und vor allem zwei VHS-Abspielgeräte, mit denen man analoges Video auf DVD umkopieren kann. Oft treffe ich dort andere Medienwissenschaftler, die alte Tapes digitalisieren.

Zuletzt sind diese Geräte eine umkämpfte Ressource geworden, die jedes Mal besetzt war, wenn ich ein historisches VHS-Band über die documenta 1987 aus dem Archivbauch der Bücherei digitalisieren wollte. Also stehe ich heute kurz vor 10 Uhr am Eingang der AGB, in einem Pulk von anderen Menschen, die sich gleich morgens einen Sitzplatz sichern wollen. Um Punkt zehn öffnet sich die Tür. Es entsteht eine Gedrängel wie früher beim Winterschlussverkauf. Ich halte vornehm Abstand.

Als ich um 10.05 Uhr die VHS-Mönchszellen erreiche, sitzt in der ersten schon ein Rentner mit einem dunkelroten Blutschwamm unter dem rechten Augen und schiebt gerade eine klobige Videokassette in den Spieler. Kein Problem, es gibt ja noch ein zweites Gerät. Leider läuft dort auch schon eine Digitalisierung. Von nebenan höre ich: „Is besetzt.“ Mr. Blutschwamm verlässt sogar sein Habitat und schiebt sich mit verschränkten Armen zwischen mich und den begehrten Player.

Ich unterdrücke den Impuls, zurückzudrängeln. Abbruch. Wenn irgendwann im 21. Jahrhundert die neu gebaute AGB öffnet, würde ich um weitere Mönchszellen bitten. Danke.

Tilman Baumgärtel