Der Mittelpunkt der Welt

Es geht ruhig zu an dem von einer anbetungswürdigen Kulisse umsäumten Ort aller Orte, dessen Lage zum Glück geheim bleibt

Der Mittelpunkt der Welt ist flüssig, tief wird er höchstens drei Meter sein

Die wichtigste Frage der Menschheit dürfte seit gestern schlüssig beantwortet sein. Wie aus sehr gut informierten Kreisen verlautet, befindet sich der Mittelpunkt der Welt zirka sechs Kilometer von hier entfernt, und zwar wenn man nach der zweiten Waldwegkreuzung links abbiegt. Der Mittelpunkt der Welt misst ziemlich genau 70 Meter in der Länge und 60 Meter in der Breite. Er ist flüssig. Tief wird er höchstens drei Meter sein, und seine Temperatur amtiert das ganze Jahr über bei freundlichen 18 Grad Celsius. Plus, wohlgemerkt.

Seine Kulisse harrt unserer offenmundigen Anbetung: ein Waldsaum, der jedem englischen Landschaftspark die Schamröte ins Antlitz treibt. Richtet die Sonne morgens ihre ersten Suchscheinwerfer auf den Mittelpunkt der Welt, blasen die Robinien, Ulmen, Erlen und Eichen ihre Blätterballons auf. Da hat sich das Nebelspray längst verzogen, die Wasseroberfläche ist frisch poliert und zur Ansicht freigegeben.

Das Uferbegleitgrün erschöpft sich nicht allein in einem leptosomen Einreiher um den Mittelpunkt der Welt; am besten für unsere Bedürfnisse ist einwandfrei eine dicke Waldpackung mit Schachtelhalmröhricht, die ihn umwickelt. Sie schützt ihn vor unbefugtem Gaffen, und sie hält die Sonne partiell von ihren Heizdienstleistungen ab. Schließlich darf der Mittelpunkt der Welt nicht zu warm sein.

Wir suchen den Mittelpunkt der Welt auf, um endlich Ruhe zu gewinnen für Betrachtung und Orientierung. Erstaunlicherweise stellt sich die Wasseroberfläche uns stets als Waagerechte dar. Und diese Waagerechte erscheint uns als verlässlicher Wert, der keine Abweichungen duldet. Ein schiefer Mittelpunkt der Welt wäre nix, ehrlich. Einfach auskippen können ihn unsere Neider daher Gott sei Dank nicht.

Pünktlich zu Schichtbeginn trübt der Tierbesatz die spiegelnde Ruhe ein und setzt zur Wellenproduktion an. Zunächst aktivieren die Wasserläufer einander und versuchen, Großmutters Schnittmusterbogen nachzuempfinden: Zickzack, Schlängellinie, Spiralen, Gehüpftes und geradlinige Verbindungen von A nach B, Parallelverschiebung, alles haben sie im Repertoire. Die Frösche halten mit einer anderen Technik dagegen. Sie springen möglichst gleichzeitig von den Rändern in den Mittelpunkt der Welt hinein und kräuseln so mäßig große Wellenringe auf, die in der gedachten Mitte des Mittelpunktes interessant interferieren. Ärgerlich ist höchstens, dass ausgerechnet jetzt der Bisam einen wichtigen Termin am anderen Ufer zu haben vermeint und alles zerwühlt, die Sau.

Ganz anders die Forellen, die eine Art olympisches Synchronschwimmen kultiviert haben, deren ästhetische Gesetzmäßigkeiten uns noch nicht zur Gänze klar sind. In den Paddelpausen jedenfalls schnappen sie sich die besten Happen aus dem als All-you-can-eat-Mahlzeit dicht über dem Wasserspiegel flirrenden Insektengesumsel. Die Köcherfliegenlarven prahlen derweil mit aktuellen Designs, und metallicblaue Libellengeschwader patrouillieren und kontrollieren, ob auch alles mit rechten Dingen zugeht.

Diese also durchaus sehr harmonische Atmosphäre macht es uns nicht schwer, die schönsten Umgangsformen auszupacken. Sind wir mal zu zweit, erörtern wir mit der Liebsten allerhöchstens paarungspräludierende Freundlichkeiten. Dann bedienen wir uns des Mittelpunktes der Welt als Infusionsflasche und führen uns gewichtige Quantitäten Wohlbehagen zu. Denn man kann leicht darin schweben. Eine Schwerelosigkeit umfängt einen, während man Wasserleiche spielt und die Fluten den hitzegequälten Körper gesund lecken und sorgsam Grad für Grad auf erträgliche Betriebstemperatur herunterkühlen. Dazu schwimmen wir mehrere anmutige Runden mit oder gegen den Uhrzeigersinn oder tauchen durch die geschmeidigen Wasserpest- und Laichkrautrasen. Dort ist nämlich über sonnendurchflutete Sichtachsen ein Grün zu bewundern, wofür wir noch keine Wörter gefunden haben. Sogar der geschäftige Wind macht jetzt Fuffzn über dem Paradies, wirbelt ein paar leise Extraschlenker und bläst einem gratis die betröpfelten Ohren trocken.

Als Besucher hält man am Mittelpunkt der Welt unaufgefordert die Klappe, rudert mit Arm und Bein seine Runde zu Ende und steuert das Ufer an. Anschließend dankt man schön und macht sich lautlos aus dem Staub.

MICHAEL RUDOLF