Gehen, sehen, riechen, hören

Was erlebt man beim Gehen mit Fremden im brütend-heißen Berlin-Kreuzberg? Unsere Autorin lässt sich ein auf eine spielerische choreografische Stadtwahrnehmung rund um den Anhalter Bahnhof

Im Duett mit einem Fremden Stadtlandschaft erkunden Foto: Andrea Keiz

Von Linda Gerner

Ich erkenne ihn schon von weitem in seinem blauen Hemd, grauer Baskenmütze und kurzer Hose. Er steht entspannt in der prallen Mittagshitze in der Linkstraße nahe dem Potsdamer Platz. Im Gegensatz zu den meisten Menschen hetzt er nicht, er wartet. Ich überquere die Straße, bin ein bisschen nervös. Dann steht er vor mir, stellt sich vor: Dan heißt er, ist doppelt so alt wie ich. Charmanter englischer Akzent, ein offenes Lächeln. Der Mann, mit dem ich heute fremdgehe.

Fremdgehen, ein Seitensprung, ist meistens mit einer großen Verletzung für mindestens eine Person verbunden, geschieht oft spontan, geleitet von Leidenschaft. Nach unserer gemeinsamen Stunde bleibt weder Wut noch Trauer. Das fremde Gehen ist trotzdem intensiv, schweißtreibend und verändert die eigene Perspektive.

Vier unterschiedliche „Stadtduette“, so werden sie in der vage formulierten Einladung genannt, führen Arantxa Martinez, Sophia New, Joshua Rutter und Daniel Belasco Rogers mit ihren jeweiligen Besuchenden durch. Die Idee dahinter stammt von der Choreografin und Stadtforscherin Sabine Zahn. Sie drückt mir zu Beginn eine gezeichnete Karte mit meinem Startpunkt für die Stadterkundung „Fremdgehen“ in die Hand. Die anderen drei Teilnehmenden und ich erfahren, dass wir auf eine uns fremde Person treffen werden. Wir sollen unser Gepäck abgeben: kein Handy, keine Ablenkung. Sabine Zahn hat die vier Performer*innen eingeladen, „ihre eigene künstlerische Sprache“ einzubringen. Dabei wird weder getanzt noch intensiv geschauspielert: „Jedes Duett ist anders, auch die Gäste bringen Individualität rein, kommen vorher aus ganz unterschiedlichen Leben, von der Kita oder der Arbeit. Wir arbeiten mit dem Alltag.“

In der dann folgenden Eins-zu eins-Situation gibt es weder einen Theatersaal noch ein entspanntes Zurücklehnen im eigenen Stuhl. Die Spielstätte ist die Gegend rund um den Anhalter Bahnhof, das Tempo des Stückes bestimmen unsere Schritte, Bühnenaccessoires sind Blumen, Müll, Passant*innen. Ich beobachte Dan und die Gegend, reflektiere dabei auch zwangsläufig meine eigene Performance in unserer Interaktion. Bin ich mehr Mitspielerin oder Zuschauerin? Sollte ich quatschen, Fragen stellen? Oder ist es gewünscht, die Stille auszuhalten?

Ich entscheide mich, nicht stumpf alles nachzuahmen, sondern nur zu tun, worauf ich ebenfalls Lust habe. Etwa meine Hand in das an den Steinplatten herabrinnende Wasser an den Bernburger Treppen zu halten. Eine gute Erfrischung beim städtischen Fremdgehen in der Mittagshitze.

Wir schlendern durch verwilderte Hinterhöfe, entlang des Mendelsohn-Bartholdy-Parks, irgendwann durch die S-Bahn-Station Anhalter Bahnhof. Dan, der seit 2003 in Berlin lebt, lockt das Kind in uns hervor, indem er mich auffordert, mit ihm auf unbefestigten Bodenplatten zu spielen. Wir kommentieren die Gentrifizierung von Kreuzberger Kiezen, er überreicht mir Blumen, bringt mich zum Lachen. Doch was zufällig wirkt, ist bis ins letzte Detail einstudiert, erzählt Sabine Zahn: „Es ist sehr geplant, aber wir laden nicht jemanden in eine Geschichte ein, die wir über die Stadt legen. Wir wollen mit dem Ort umgehen. Das kann auch mal banal, langweilig oder hässlich sein.“

Hässlich und charakterlos, besonders im Vergleich mit anderen Kreuzberger Orten, kann die Gegend um den Anhalter Bahnhof leicht wirken: Bürogebäude, laute Straßen, teure Restaurants, große Baustellen. Ein wenig attraktiver Durchgangsort, damals wie heute. Auch beim Spaziergang mit Dan kommt diese Blickrichtung vor: Er sammelt Müll auf, wir nehmen den Gestank der Stadt war, er pult aus einer Bodenritze Einwegfilter von Junkies heraus: „Die habe ich vorher nicht hier präpariert“, versichert er auf Nachfrage.

Doch Dan macht mit seinem Blick auch aufmerksam auf besondere Architektur, zeigt mir Insekten und seinen Lieblingsbaum. Er lässt mich beim Führen mit geschlossenen Augen den anderen Sound der Stadt wahrnehmen, den lebendigen, vielseitigen. Ich bin überrascht, wie unprätentiös unsere Interaktion ist, hatte ich zuvor mit Fakten, etwa über die Historie des Anhalter Bahnhofs, gerechnet. Die Geschichte der durchmischten Nachbarschaft klingt an, aber explizit wird dieses Stück an keiner Stelle.

Irgendwann lasse ich mich auf den ungewohnten Austausch voll ein, schrecke vor kurzen Berührungen nicht zurück. Dan ist mir langsam weniger fremd, wir kommen in einen gemeinsamen Rhythmus. Mein Blick für die Umgebung wird bewusster, ich freue mich über Kleinigkeiten. Kurze Zeit später verschwindet mein Begleiter geräuschlos und lässt mich mit geschlossenen Augen auf warmen Steinplatten liegen. Ich höre den Berliner Straßenlärm, zwei Menschen, die diskutieren. Ich schwitze, raffe mich wieder auf. Dans letzten Worte hallen nach: „Du bist an einem sicheren Ort.“ Wie gewinnbringend Blind Dates sein können, wenn man, statt im Kaffee zu rühren, fantasievoll und neugierig die Gegend und seine Mitmenschen beobachtet.

„Fremdgehen“, wieder am 2. 7., 3. 7./4. 7. + 5./6./7./8. 8. 2019, jeweils 11 Uhr und 13 Uhr, 14 Euro, Anmeldung unter: fremdgehen19@gmail.com