: Theatrales Stadtmarketing
Auf den Bühnen nichts Neues: Weil alles schon mal dagewesen sei, erfindet sich das Theaterformen-Festival neu. In Hannover gibt’s Dokutheater mit lokalen Akteuren. Und zum Auftakt Spektakel
Von Jens Fischer
Seit 2015 kuratiert Martine Dennewald das Theaterformen-Festival und huldigt mit politisch forschen Ansätzen dem 1990 etablierten Konzept, mit weltweit eingesammelten ästhetischen Novitäten der darstellenden Künste von deren Vielfalt zu künden und ein bisschen Völkerkundemuseum des Theaters zu sein. Im nächsten Jahr endet ihr Vertrag – ein Anlass, jetzt mal so richtig aus der Ecke zu kommen.
So öffnet Dennewald die diesjährige Ausgabe in Hannover für einen ganz anderen Umgang mit der Gastgeberstadt. Sieben der 14 gezeigten Produktionen sind keine Gastspiele, sondern in den letzten anderthalb Jahren entwickelte Eigenproduktionen. Laut Pressemitteilung 150, laut Dennewalds Festivaleröffnungsrede 200 Bürger sollen bis zum 30. Juni auf Bühnen, in Installationen und im Stadtraum die Protagonisten des Festivals sein. Das sich damit völlig neu definiert.
Torschlusspanik der Chefin? „Nein, das spiegelt die bei meinen Recherchereisen gemachten Erfahrungen, Theatermacher denken weltweit weniger über Formen, mehr über Repräsentation nach. Wer spricht auf der Bühne für wen?“ Es gelte, spezifische Probleme sozialer Gruppen zu thematisieren, so würden diese sich von der Kunst repräsentiert sehen, einige spielen mit, viele werden Zuschauer.
Keine neue Idee. Kaum ein Fördertopf für Theaterprojekte, der das nicht zur Bedingung für Geldzuwendungen macht. Auch sind die aus dem Geist der Bürgerbühnen entwickelten partizipativen Projekte als Theaterform in Hannover bestens bekannt, da sie in der gerade zu Ende gegangenen Ära des Schauspielintendanten Lars-Ole Walburg reichlich ausprobiert wurden.
„Aber es gibt in unserer globalisierten Theaterwelt das Neue nicht mehr, das ich einladen könnte, es ist alles schon mal dagewesen“, so Dennewald. Die letzte Innovation sei vor etwa 20 Jahren das Dokumentartheater gewesen. Beispiele dafür aus anderen Ländern an die Leine zu holen, ergebe aber wenig Sinn, weil die Produktionen ohne genaue Kenntnis der kulturellen Kontexte und Konventionen nicht zu verstehen seien. „Deswegen habe ich die Regisseure gebeten, ihre Konzepte mit Hannoveranern noch einmal neu umzusetzen.“
Was natürlich teurer ist, als eine fertige Inszenierung einzufliegen. Aber dank der 250.000 Euro, mit denen die Bundeskulturstiftung den 1-Millionen-Etat des Festivals erhöhte, konnte das Festivalteam für die Eigenproduktionen fast verdoppelt werden.
Zur Eröffnung ist aber eine Spektakelvariante angesagt für die Suche nach der Wahrheit. Der bereits im Februar mit „Es war einmal … das Leben“ im Schauspielhaus auftrumpfende polnische Regisseur Łukasz Twarkowski zeigt nun seine am Litauischen Nationaltheater entwickelte Produktion „Lokis“. Ausgangspunkt szenischen Nachdenkens ist Prosper Mérimées titelgebende Novelle, in der eine Schwangere von einem wilden Bären angefallen und ihr Kind später zur Menschen zerfleischenden Bestie wird.
Sinnbild der Angst vor atavistischem Verhalten, den brüllend reaktivierten animalischen Raubtiergenen. Bilder der Manifestation soll beispielsweise ein Mord aus dem Jahr 2003 liefern: In Vilnius erschlug Popmusiker Bertrand Cantat seine Freundin Marie Trintignant aus einem Eifersuchtsaffekt heraus, wie es später hieß. Er wurde so geradezu zur Ikone männlicher Gewalt gegen Frauen.
Die Inszenierung scheint das relativieren zu wollen. Also den Täter seiner Images entkleiden und schauen, ob er nicht auch Opfer ist. Auf der Bühne wird nun in einem Hotelzimmersetting mit sich widersprechenden Fakten und Vermutungen die Tat Cantats zu rekonstruieren versucht. Betont gelangweilt agieren die Darsteller, sodass der plötzliche Exzess der ausbrechenden Gewalt besonders effektvoll funktioniert. Dazu Stroboskoplicht und Gänsehaut-Sounds. Aber die Grenzverletzung, die Wahrheit bleibt ein Rätsel: „Plötzlich versteht man nicht mehr, was man tut, und tut es trotzdem.“
Über einen Blicke heischenden Löwenkopf heißt es, wir seien doch alle Löwen an der Leine. Tierbilder sind auch sehr beliebte Zwischenschnitte bei den Videostreams aus den nicht einsehbaren Spielräumen. In einer endlosen Partyszene donnern dazu laut Ankündigung 85 Dezibel laute, immer höchst bedrohlich dunkel abgemischte Rave-Beats, Scheinwerfer flackern wie im Technoklub. Das nun berauscht spielende Ensemble macht den Eindruck, als suchte es den Moment des Außer-sich-Kommens, tanzt manisch monoton, um selbstvergessene Exaltation als Erlösung nahezulegen? Wir sind alle Cantat?
Twarkowski findet beeindruckende Bilder für die alptraumhafte Reise zum Glücksversprechen des Kontrollverlusts, verliert dabei die Demarkationslinie zwischen Zivilisation und Natur aber schnell aus den Augen. Dass er inhaltlich wirklich etwas zu den Entgrenzungen zu sagen hat, kann nicht behauptet, aber von einem pompösen Nichts gesprochen werden.
Also zurück zum Festival-Schwerpunkt: Fokus Hannover. Woher das Interesse? „Ich wohne hier ja in der Nordstadt und finde das Stadtmarketing furchtbar“, so Martine Dennewald. Barockgarten, Schützenfest, Zoo, Shopping, Maschsee, Messe, irgendwas mit Pferden – so wirbt die Landeshauptstadt für sich. Die meisten Hannoveraner fühlten sich dadurch nicht repräsentiert, so die Festivalleiterin. Die Stadt sei viel kosmopolitischer, subkultureller, diverser und reich an Kunstinitiativen.
Das soll nun sichtbar werden durch Projekte, etwa als Stadtporträt von Senioren oder einer Gruppe sudanesischer Frauen, die sich gegen weibliche Genitalverstümmelung einsetzt. Mit Vätern und Kindern, die Erinnerungen austauschen. Und Leinebürgern, die ihre Sammelleidenschaft oder den Umgang mit dem Tod thematisieren.
Bis 30. 6., Hannover, div. Orte, Infos und Programm: www.theaterformen.de
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