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Geschichtensammler und Bilderfluter

Die 14. Ausgabe des Festivals „Theaterformen“ in Hannover wagt Neues: Viele Stücke entstehen unter Beteiligung lokaler Akteure

Von Robert Matthies

Alles anders: Nicht nur besteht beim Festival „Theaterformen“, ausgerichtet seit 2007 in neu aufgelegter Form im Wechsel – alle ungeraden Jahre vom Niedersächsischen Staatstheater in Hannover und alle geraden Jahre vom Staatstheater Braunschweig. Diesmal bilden rund die Hälfte des Programms neu entstehende Produktionen – ein Wagnis für alle Beteiligten. Viele der Stücke entstehen auch unter Beteiligung lokaler Akteur*innen: Rund 150 Hannoveraner*innen proben seit Monaten.

Eine szenische Reise durch Hannover hat etwa der argentinische Regisseur Marco Canale gemeinsam mit 50 Senior*innen erarbeitet. Flüchtige Bühnenbilder bauen sie an Denkmälern, in einer Ruine und in privaten Wohnzimmern auf. Aus kollektiven und individuellen Erinnerungen soll so ein Schatz aus ungehörten Stadtgeschichten entstehen. Eine erste Version von „Die Geschwindigkeit des Lichts“ ist in Buenos Aires entstanden, die nächste Stadtgeschichtensammlung bereitet Canale für Tokio vor.

Auch in der Inszenierung von Konstantin Steshiks Theaterstück „Kurzzeit“ über das Altern und das Festhalten an und Verlieren von Erinnerungen geht es um die Sammlung lokaler Geschichten. Semion Aleksandrovskiy, derzeit einer der meist beachteten jungen russischen Regisseure, bringt für das Stück, in dem ein Vater mit schwindendem Kurzzeitgedächtnis nach dem Begräbnis seiner Frau mit seinem erwachsenen Sohn spricht, Stimmen lokaler Künstler*innen und ihrer Väter auf die Bühne.

Unter dem Titel „My body belongs to me“ erarbeiten die ägyptische Theaterautorin, Dramaturgin und Regisseuri Laila Soliman und der belgische Schauspieler Ruud Gielens mit einer selbst organisierten Gruppe von Frauen aus dem Sudan eine Performance über weibliche Genitalverstümmelung.

Seit drei Jahren organisieren sich die Frauen aus Hannover, Soltau, Braunschweig und Wolfsburg – selbst Überlebende einer Genitalverstümmelung –, um auf allen Ebenen über Gentialverstümmelung zu informieren und dagegen anzugehen. In der Performance geht es dabei nicht nur um den Kampf, sondern auch um Heilungsprozesse und einen Austausch über den eigenen Umgang mit dem Thema oder um Auseinandersetzungen mit der Familie – und nicht zuletzt um die hiesigen gesetzlichen Regelungen zur Genitalverstümmelung als Asylgrund und die medizinische Versorgung von Überlebenden in Deutschland.

Auch beeindruckendes internationales Theater haben die Organisator*innen wieder eingeladen: Zu sehen ist etwa Łukasz Twarkowskis monumental-bilderflutige Inszenierung von Anka Herbuts „Lokis“. Drei wahre und erfundene Geschichten bringt er visuell und musikalisch opulent auf die Bühne: Ein Bär überfällt in Litauen eine schwangere Gräfin, Jahre später wird die Braut ihres Sohnes nach er Hochzeitsnacht zerfleischt aufgefunden; die Geschichte des litauischen Fotografen Vitas Luckus, der 1987 in einem Wutanfall einen Freund seiner Frau erstach; die Ermordung der Schauspielerin Marie Trintignant durch ihren Freund Bertrand Cantat, den Sänger der Rockband „Noir Désir“ 2003 in einem Hotel – in Vilnius.

Do, 20. Juni, bis So, 30. Juni, Hannover. Infos und Programm: www.theaterformen.de