„Sie müssen das Lernen neu lernen“

Viele Migranten bringen zu schlechte Lernvoraussetzungen mit, um die vorgesehenen Integrationskurse erfolgreich abzuschließen, meint Judith Gerling-Tamer vom interkulturellen Bildungsträger Elisi Evi e.V. in Kreuzberg

taz: Frau Gerling-Tamer, in Berlin laufen seit rund sechs Monaten die ersten Integrationskurse nach der rot-grünen Gesetzesänderung. Wie sieht Ihre Bilanz aus?

Judith Gerling-Tamer: Zu uns als Träger kommen überwiegend Migrantinnen, die schon länger in Deutschland leben, zum Teil schon mehrere Jahrzehnte.

Nun nehmen also überwiegend Migranten ein Angebot wahr, das längst überfällig war?

Genau. Neuankömmlinge kamen bislang noch nicht. Sie werden sich wahrscheinlich demnächst melden, da sie im Sommer geheiratet haben und nun nach Deutschland kommen. Sie müssen diesen Integrationskurs absolvieren, das ist Pflicht.

Von Seiten der Deutschlehrenden ist zu hören, dass viele Migranten relativ schlechte Lernvoraussetzungen mitbringen. Was sind das für Probleme?

Viele haben in ihren Heimatländern nur die Grundschule besucht oder sind völlige Analphabeten. Sie haben, besonders wenn sie älter sind, überhaupt kein Lernverhalten mehr. Sie müssten sozusagen das Lernen noch mal neu lernen.

Kann der Integrationskurs solche Probleme auffangen?

Nein, dazu bräuchten wir mehr Zeit und eine stärkere Praxisorientierung. In 600 Stunden Deutschunterricht ist keine Zeit, auch Exkursionen zu machen, zum Beispiel zusammen zum Einkaufen, zum Arzt oder zu Elternabenden zu gehen. Früher konnten wir praxisorientierter lehren.

Reichen denn 600 Stunden Sprachkurs, um das Prüfungsniveau zu erlangen?

Von den Teilnehmenden unserer Kurse werden voraussichtlich nur knapp fünf Prozent den erforderlichen B1-Test bestehen. Viele leiden dazu noch unter massiven Prüfungsängsten, da sie Prüfungen einfach nicht gewohnt sind. Viele haben jetzt schon Angst.

Wo müsste der Gesetzgeber dringend nachbessern?

Es müssten mehr Stunden genehmigt werden. Eine Kollegin meinte, 1.500 bis 2.000 Stunden wären notwendig, zumindest bei Migranten mit Lernschwierigkeiten. Leider ist zudem die sozialpädagogische Begleitung weggefallen, die früher bei diesen Kursen dabei war.

Wozu braucht man die?

Um den Migranten zu helfen, selbstbewusster gegenüber Behörden zu werden, Lernen zu lernen und Ähnliches. Die sozialpädagogische Begleitung ist eine echte zusätzliche Integrationshilfe. Ich finde, darüber hinaus müssten Migranten mit Duldung – vor allem solche, die schon zehn Jahre hier leben – ebenfalls gefördert werden. Auch die eingebürgerten Migranten ohne Deutschkenntnisse sollten in die Förderung einbezogen werden.

Und wie läuft die bürokratische Abwicklung aus Sicht der Trägerorganisationen?

Wir müssen mehr Bürokratie bewältigen als zuvor, weil die Integrationskurse als Einzelförderung gelten. Wo zuvor nur kurs- oder gruppenweise abgerechnet wurde, muss nun für jeden Teilnehmenden und jede Kursstunde separat abgerechnet werden. Das macht uns erheblich mehr Arbeit.

INTERVIEW: A. WOLTERSDORF