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Szenen aus einem sowjetischen Kinderleben

Lakonisch, unsentimental, poetisch verknappt: Die große russische AutorinLjudmila Petruschewskaja erzählt von ihrer entbehrungsreichen Kindheit und Jugend

Die Zeit, in der alle den Arm heben mussten: Kinder beim Spiel in der Sowjetunion Foto: Paul Almasy/AKG

Von Katharina Granzin

Angesichts der Dinge, die Ljudmila Petruschewskaja in jungen Jahren erlebte, ist dieses Buch einerseits erstaunlich ­schmal. Andererseits ist es aber auch typisch für diese große Lakonikerin unter den russischen AutorInnen, dass sie noch die größten Dramen und Tragödien, die ihr früh im Leben zustießen, in äußerster Verknappung wiedergibt. Melodram ist ihre Sache nicht.

1938 in eine Familie von „Volksfeinden“ geboren (etliche Verwandte waren Opfer des stalinistischen Terrors geworden), war die kleine Ljudmila drei Jahre alt, als der Krieg mit Hitlerdeutschland begann. Zusammen mit Mutter, Tante und Großmutter wird sie nach Kuibischew zwangsausgesiedelt, wo sie wie Ausgestoßene leben. Die anderen Bewohner der Kommunalwohnung lassen die Verfemten nicht einmal das Badezimmer benutzen. Essen und Kleidung gibt es nicht. Das kleine Mädchen treibt sich herum, bettelt, verwildert und läuft mit sieben Jahren zum ersten Mal fort.

Endlich holt ihre Mutter – die nach Moskau zurückgegangen war, um ihr Studium fortzusetzen – die Tochter wieder zu sich. Im Zimmer des Großvaters, eines renommierten Linguisten, der nach einer fachlichen Auseinandersetzung mit Stalin seinen Lehrstuhl verliert und in ohnmächtigem Zorn nachts gegen die Wände schlägt, wohnen Mutter und Kind jahrelang unter dem Esstisch.

Ljudmila Petruschewskaja: „Das Mädchen aus dem Hotel Metropol“. Aus dem Russischen von Antje Leetz. Schöffling, Frankfurt/M. 2019, 256 S., 24 Euro

Dass von anderen Menschen prinzipiell nichts Gutes zu erwarten ist, lernt das Mädchen sehr früh. Böse Nachbarn, eine missgünstige Stiefgroßmutter und nicht zuletzt die Grausamkeit der anderen Kinder verhelfen ihr zu nachhaltigen Erfahrungen fürs Leben. Selbst die erste Verliebtheit, die sie als Zwölfjährige in einem Kinderheim erlebt, kommt nur in vergifteter Form zu ihr, da sie verbunden ist mit angedrohter sexueller Gewalt.

Diese Erinnerungen stellen keine fortlaufende Erzählung dar, sondern sind eher Schlaglichter auf einzelne Szenen, die recht unvermittelt nebeneinandergesetzt werden – mal poetisch pointiert, mal ganz nüchtern, mal mit kleinem retrospektivem Kommentar. Zwischen den hell beleuchteten Szenerien können zeitliche Dunkelfelder von mehreren Jahren liegen. Ganz ähnlich funktioniert schließlich auch die menschliche Erinnerung; hängen bleibt im Gedächtnis vor allem, was mit starken Emotionen verbunden ist. (Dennoch ist es unmöglich, dass die Autorin sich wirklich daran erinnert, wie sie im Alter von einem Jahr laufen gelernt hat!) Neben vielen erschreckenden und gefährlich wirkenden Situationen beschreibt sie zum Beispiel auch Erinnerungen an die Großmutter, die, von Wassersucht und Hunger geschwächt, nur noch auf dem Bett liegen kann, aber dem kleinen Mädchen auswendig Novellen von Gogol nacherzählt.

Aus den späteren, den Jugendjahren haben insgesamt weniger Ereignisse Eingang ins Buch gefunden; von den fünf Studienjahren an der Journalistischen Fakultät sogar nur die Abschlussprüfung – bei der die Absolventin keine einzige Frage beantworten kann, aber trotzdem eine Drei bekommt, da sie vor der Kommission mit besonders aufrechter proletarischer Haltung Eindruck macht. Für eine studentische Baubrigade schreibt sie als frisch gebackene Journalistin die Brigadezeitung, wird dabei zufällig fürs Radio entdeckt und macht in der Kulturabteilung des staatlichen Rundfunks Karriere.

Als in der Belegschaft 1968 über den Einmarsch in die Tschechoslowakei abgestimmt wird, hebt auch Ljudmila Petruschewskaja, um den Lebensunterhalt ihrer Familie nicht zu gefährden, die Hand bei „dafür“. Dazu schreibt sie: „In diesen schweren Zeiten, als man auf Versammlungen die Hand heben musste, sagte ich zu mir: Wir sind Undercoveragenten in einem feindlichen Land. Das Komischste war, dass es damals unheimlich viele von diesen Undercoveragenten gab, fast das ganze Land war undercover.“

Keine Antwort richtig. Wegen aufrechter proletarischer Haltung bekam sie dennoch eine Drei

Ganz anders als etwa ihre um eine Generation jüngere Landsmännin Maria Stepanowa, die in ihrem ebenfalls kürzlich erschienenen Langessay „Nach dem Gedächtnis“ kunstvoll das Verhältnis von Wirklichkeit, Erinnerung und Überlieferung reflektiert, schert Petruschewskaja sich um derlei Betrachtungen kein bisschen. Ihre Erinnerungen sind ganz Wirklichkeit, weil sie eben die Erinnerungen sind, die sie hat. Und während sie erzählt, werden sie gleichsam wieder gegenwärtig.

Ihre prägnanten, knappen Szenen lassen in „Das Mädchen aus dem Hotel Metropol“ eine Epoche schmerzhaft – und manchmal schmerzhaft komisch – wieder aufleben, die mittlerweile schon unendlich fern schien.

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