„Hier spielen! Sonst nirgends“

Warum die Magdeburger Kindheitswissenschaftlerin Eva Luber ein Problem mit Spielplätzen und der Bürokratie der Jugendämter hat. Und wie sie die aus dem öffentlichen Leben verdrängten Kinder wieder in die Mitte holen will

INTERVIEW MADLEN OTTENSCHLÄGER

taz: Herzlichen Glückwunsch, Frau Luber. Sie haben den Kindern in Deutschland eine Wissenschaft geschenkt.

Eva Luber: Danke, aber ich war das nicht allein. Wir wollen mit einem ganzen Team dazu beitragen, den Reformstau bei Kindern und der frühkindlichen Entwicklung zu lösen.

Was darf man sich einen Reformstau beim Kindergarten vorstellen?

Dass Deutschland anderen Ländern bis zu 15 Jahre hinterherhinkt. Am schlimmsten bei den Kindergärten. Bis vor kurzem waren das reine Betreuungseinrichtungen. Die Kinder wurden dort untergebracht. Nicht mehr. Inzwischen reden wir endlich von Bildungseinrichtungen.

Was ist der Unterschied?

Die Gesellschaft erkennt schrittweise, dass wir im Kindergarten eigentlich eine große Chance haben – wenn wir die Kinder dort in ihrer Entwicklung stärken. Wichtig ist das vor allem bei sozial benachteiligten oder Migrantenkindern, bei denen das zu Hause vielleicht nicht ausreichend geschieht.

Aber was trägt eigentlich Ihre „Kindheitswissenschaft“ dazu bei? Ab kommendem Wintersemester können Abiturienten – deutschlandweit einmalig – das Fach Kindheitswissenschaft an der Uni Magdeburg/Stendal studieren.

Wir betrachten die Kindheit aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen, die sich bislang getrennt mit Kindern befasst haben. Unsere AbsolventInnen sollen dieses Wissen in die Gesellschaft einbringen – und zwar genau dort, wo Kinder und Familien leben und unterstützt werden müssen.

Aber haben wir das alles nicht schon? Sozialpädagogen, Lehrer, Kindergärtnerinnen, diverse Ämter …

… diese Sektorisierung ist genau das Problem. Nehmen Sie eine Kommune. Dort gibt es das Jugendamt, das Sozialamt, das Gesundheitsamt, die Schulen, die Kindergärten. Alles unterschiedliche Institutionen und Behörden, die oft nicht wissen, was die anderen machen. Bestenfalls arbeiten sie nicht gegeneinander.

Die deutschen Behörden bekämpfen sich?

Nun ja, es geht um Macht und Machterhalt. So nach dem Motto: Das ist mein Aufgabengebiet, da hast du mir nichts zu sagen. Eigentlich sollten aber das Kind und die Familie im Mittelpunkt stehen. Das ist in Deutschland nicht der Fall. Im Mittelpunkt steht bei uns das Jugendamt mit seiner eigenen Bürokratie und seinen Sprechstunden. Und dem ist es relativ gleichgültig, wie eine Mutter von drei Kindern im unterschiedlichen Alter ihre Sprechzeiten einhalten kann.

Was können Ihre KindheitswissenschaftlerInnen an diesem System denn ändern?

Unsere Studenten bekommen das ganze Kindheitswissen auf einmal. In kleinen Portionen zwar, aber eben wirklich sehr breit. Wir haben Pädagogik, wir haben Soziologie der Kindheit, wir haben Psychologie und Gesundheitswissenschaften, aber auch beispielsweise Familienpolitik und Ökonomie. Diese Disziplinen tragen alle etwas Wichtiges bei, waren bislang aber an ganz unterschiedlichen Lehrstühlen vertreten. Unsere Studenten sollen die Scheuklappen ablegen.

Klingt schön. Aber dafür gibt’s nur 6 Semester Zeit, dann kommt der Bachelor-Abschluss. Bieten sie nicht Oberflächlichkeit statt Professionalität?

Ich sehe das als Stärke. Wir werden keine Leute haben, die sagen: Das Wichtigste ist die Pädagogik! Oder: Das Wichtigste ist die Psychologie! Natürlich kann man kritisch sagen, dass unsere Studenten nur an der Oberfläche kratzen. Aber sie lernen genug, um das Wesen der einzelnen Bereiche zu verstehen Und sie bekommen ganz viel Moderation, Kommunikation und Management. Das heißt, sie können dafür sorgen, dass Kommunikation zwischen Behörden und Institutionen stattfindet.

Sie haben selbst Kinder und Enkelkinder. Wo liegt das Problem im Umgang mit Kindern?

Wir haben die Kinder aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Ich will jetzt nicht sagen, dass Deutschland kinderfeindlich ist. Das ist mir zu banal. Aber ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wir haben so genannte öffentliche Spielplätze …

das ist doch gut! Was ist an einem Spielplatz schlecht?

Das Problem ist der Begriff. Ein „öffentlicher Spielplatz“ sagt doch: Hier dürfen Kinder spielen. Und sonst nirgends. Ich wünsche mir, dass die Kinder mehr in den öffentlichen Raum zurückkehren. Heute habe ich doch das Gefühl, dass ich mich als Mieter bei meinen Nachbarn für den Lärm meiner Kinder entschuldigen muss.

Sie haben den Traum, verschiedene Kinderwissenschaften zu einer einzigen zu vernetzen. Können Sie uns das an einem Beispiel erklären?

In England gibt es beispielsweise in den Kindergärten so genannte Centres of Excellence. Die Mütter werden ausdrücklich aufgefordert, in den Kindergarten mitzukommen – und auch dort zu bleiben. Sie werden nicht auf der Schwelle abgewiesen oder nach Hause geschickt, wie das in Deutschland der Fall ist. Sie können dort kochen lernen. Oder bekommen einen Sprachkurs. Und es gibt eine Sozialarbeiterin, die sehr gut weiß, dass die Mutter genauso bedürftig sein kann wie das Kind. Dieses Modell geht vom Betroffenen aus und fragt: Was braucht diese Frau?

Ich sehe da noch keine Vernetzung. Es würde doch auch reichen, die Erzieherinnen besser auszubilden.

Nein. Ist die Mutter bedürftig, dann muss sie zum Jugendamt, vielleicht ins Gesundheitsamt, sie kommt beim Kindergarten vorbei und bringt ein Kind in die Schule. In England werden die Mütter dort abgeholt, wo sie sowieso hinkommen: im Kindergarten, der ideale Ort der Vernetzung. Die Sozialarbeiterin dort redet mit der Mutter und stellt vielleicht fest, dass sie eine Krankheit hat, und organisiert von dort aus eine geeignete Behandlung. Um so eine Vernetzung zu organisieren ist es hilfreich, die anderen Systeme zu kennen. Bei unseren Kindern haben wir da geschlafen.

Sie wollen Ihre Kindheitswissenschaftler auch in Parteien schicken.

Ich sehe in dem Studiengang auch ein politisches Konzept. Kindheitswissenschaftler sind die Fachleute schlechthin. Und wenn sich die Politik endlich für Kinder wieder interessiert, dann sollen sie dahin.

Ist es nicht naiv, sich von den 30 Absolventen grundlegende Änderungen des Systems zu erhoffen?

Wenn man das so formuliert, dann ist es natürlich naiv. Aber wenn man bedenkt, dass wir ab dem nächsten Jahr 60 Studenten haben, dann noch mal 60 und wieder 60, dann ist das schon eine größere Zahl. In England gibt es über 70 Studiengänge childhood studies. Wir werden in Deutschland nicht allein bleiben, in zehn Jahren wird es hier mindestens fünf weitere Studiengänge geben.

In anderen Ländern haben Kindergärternerinnen studiert.

Das genau ist das Kardinalproblem in Deutschland. Aber zum Glück gibt es auch hier inzwischen Studiengänge. Natürlich kann man sagen: Was sind vereinzelte Studiengänge bei 42.000 Kindergärten? Aber ich denke: Wir fangen endlich an.

Die akademisch gebildeten Kindergärtnerinnen werden auf dem Arbeitsmarkt mit Ihren Absolventen konkurrieren. Wird das ein Konflikt?

Nein, ich sehe beides als einen Aufbruch und Neuanfang. Wir brauchen beides und ich wünsche mir, dass Absolventen aus den verschiedenen Bereichen endlich zusammenarbeiten.

Wie rekrutieren Sie Ihre StudentInnen?

Bislang müssen wir aus 300 Bewerbungen nach Abiturnote und Wartezeit wählen, leider. Wir würden in Zukunft aber gerne Auswahlgespräche führen, zumindest mit einem Teil der Bewerber. Denn ich hätte gern ein paar Leute mit Praxiserfahrung dabei, die vielleicht auch schon etwas älter sind. Und nicht direkt vom Gymnasium kommen. Möglicherweise ist das schon ab dem nächsten Jahr möglich.

Gerade sind wieder nationale Pisa-Ergebnisse veröffentlicht worden. Wie bewerten Sie diesen Schulvergleich?

Pisa hat gezeigt, dass in Deutschland das Schulsystem unterdurchschnittlich ist. Und Pisa hat auch gezeigt, dass wir nicht einfach so weiterwursteln können. Wir müssen uns die internationalen Werte und Erfahrungen anschauen. Dass das nun passiert – da hat Pisa sicherlich etwas Positives bewirkt.

Kritiker sagen, dass durch Pisa der Druck auf die Kinder zunimmt.

Das kann man wahrscheinlich nicht verhindern. Ich sehe es aber auch durchaus positiv, wenn man eine gewisse Leistungsbereitschaft fördert. Ich denke, dass wir mit vielen Talenten unserer Kinder in der Vergangenheit eher schlecht umgegangen sind, vor allem bei Migrantenkindern oder sozial benachteiligten.

Nutzt da Druck?

Es geht eben darum, den „Druck“ positiv zu gestalten.

Wie geht das?

Druck gibt es heute schon, denken Sie an Bayern, wo die Auslese fürs Gymnasium sehr früh stattfindet. Wir müssen aber dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Wir müssen endlich anfangen, Talente zu fördern, die sonst verkümmern. Es ist doch gut, wenn man vermittelt: Es macht Spaß, etwas zu lernen. Und es macht Spaß, etwas zu leisten.