ES GIBT VIELE MÖGLICHKEITEN, EINEN ZUG ZU VERPASSEN
: Gleis 14

ROGER REPPLINGER

Die Alten stehen über Gleis 14 und gucken runter. Er hat einen Elbsegler auf dem roten Kopf, sie eine Basecap, blauweiß. Beide sagen: „Sstade.“ Sie lehnen sich aufs Geländer, fehlt ein Kissen. Er ist ein Klugscheißer, sind wir schon zwei.

Von hier sehen wir die Geschwindigkeiten, die es im Bahnhof gibt. Mindestens drei bei den Reisenden: die Langsamen, die früh da sind – essen, lesen, küssen sich, machen nichts; die mit dem Zeit-ist-Geld-Tempo, und diejenigen, die zu spät sind.

Abfahrtszeit des Metronom nach Uelzen: 13.56 Uhr. Halbe Minute später reicht noch, eine Minute später reicht auch. Einer springt in den Pfiff hinein in den Zug. Bei jedem Zug kommen ein paar zu spät, da kann der Zug noch so viel Verspätung haben. Wenn an Gleis 14 ein ICE ankommt und die ankommenden Reisenden mit sich und ihrem Gepäck die Treppen verstopfen und einer im grünen Shirt in den Metronom will, schwimmt er gegen den Strom.

Der ICE nach München ist fünf Minuten verspätet. Mutter mit Trolley und Kind mit Trolley haben nicht gesehen, dass die Anzeigentafel sagte: „Umgekehrte Wagenreihung“. Jetzt hetzen sie den Bahnsteig entlang. Reicht noch. Hinter ihnen noch eine Mutter mit Kind und Trolley. Reicht auch noch. Knapp.

Der ICE hat sieben Minuten Verspätung, als er anruckelt, nicht genug für eine ältere Frau, die den Knopf, der ihr die Tür öffnen soll, noch erreicht, bevor der Zug rollt. Die Tür bleibt zu. Sie atmet schwer, schimpft nicht, geht zur Liste mit den Abfahrtszeiten, sucht nach dem nächsten.

Ein Vampir steigt in den Metronom nach Bremen: Handelsblatt unterm Arm, Bügelfalte, Lackschuhe. Erste Klasse. Ein graues Sweatshirt und ein schwarzes T-Shirt rennen. Reicht. Für eine blaue Hose, eine rote Hose und ein Paar weiße Turnschuhe reicht es nicht.

Ein älteres Ehepaar, beide im Anzug, sie war verloren gegangen, findet sich wieder. Sie zittert ein wenig und nimmt seinen Arm. Reisende Familien bauen aus Koffern Burgen um sich. Ist gleich wie am Strand. Der IC aus Nürnberg kommt 20 Minuten zu spät. Eine Frau, grauer Hosenanzug, wartet. Sie geht hin und her. Der Zug ist da, eine viel jüngere Frau hat jemanden gefunden. Nein, ist die gleiche Frau. Aufgeregte Eltern erwarten ihre Kinder. Die Kinder, Hosen tief, gelbe Kopfhörer, sind so cool wie ihre Eltern aufgeregt. Die Eltern winken, die Kinder finden das peinlich. Als die Mutter den Sohn – einen Kopf größer – umarmt, verdreht er die Augen.

Der Bahnhof stammt aus einer Zeit, als Reisenden das Gepäck auf den Perron getragen wurde, im Notfall auch sie selbst. Heute rumpeln Frauen, Kinder und Alte mit ihren Koffern die Treppen runter, weil der Aufzug klein und versteckt ist.

Die blaue, die rote Hose und die weißen Turnschuhe nehmen den nächsten Zug nach Bremen. Eine Brille und eine braune Wollmütze verpassen ihn.

Unter unseren Füßen läuft ein Stromkabel. Deshalb hängt an der Brücke über Gleis 14 ein Schild: „Hochspannung Vorsicht! Lebensgefahr“. Das ruft danach, abzuhauen. Für eine Weile. Oder länger.