Sancho schüttelt die Mähne

Rundum bezaubernd: An der Deutschen Oper inszeniert Jakop Ahlbom den „Don Quichotte“ Massenets als surrealistisches Theater der Wunder und schönen Trugbilder

Eine Art tragikomisches Kammerspiel: Alex Esposito als Don Quichotte, Seth Carico als Sancho Pansa Foto: Deutsche Oper

Von Katharina Granzin

Und es gibt sie doch! Die wunderschöne Dulcinea, der Cervantes’ „Don Quixote“ in allerhöchster Minne huldigt, ist im Roman eine bloße Schimäre. In Jules Massenets Oper „Don Quichotte“ aber – eng an ein Theaterstück des Dramatikers ­Jacques Le Lorrain angelehnt – ist Dulcinée eine Person aus Fleisch und Blut, mehr noch: Sie ist kein einfaches Bauernmädchen, sondern eine gestandene, selbstbewusste berufstätige Frau. Die Kellnerin zieht einen kleinen Schwarm von Möchtegern-Liebhabern hinter sich her, die sie geschickt auf Abstand zu halten weiß. Klar, dass einer wie der verrückte alte Ritter da nicht landen kann. Oder?

Spoiler vorweg: Nein, natürlich wird das nichts. Aber zumindest lässt Dulcinée den eigenartigen Verehrer so nah herankommen, dass es ihm möglich wird, zu ihren Ehren ein Abenteuer zu bestehen und eine Halskette zurückzuerobern, die ihr von Räubern gestohlen worden war. Und der treue Sancho hilft allzeit.

Auf diesen überschaubaren Handlungskern ist in Massenets Oper die epische Geschichte des Ritters von der traurigen Gestalt konzentriert worden. Von der Dramaturgie her handelt es sich also um eine Art tragikomisches Kammerspiel, aus dem der schwedisch-niederländische Regisseur Jakop Ahlbom, der mit diesem „Don Quichotte“ seine erste Arbeit an der Deutschen Oper vorlegt, ein großartig surrealistisches, vielfarbig schillerndes Zaubertheater macht.

Diese Vielfarbigkeit ist nicht einfach bunt, sondern wird sehr überzeugend entwickelt. Der Abend beginnt mit einer eindrucksvollen Massenszene voller gedeckt gekleideter Gestalten, darunter auch einige grotesk geformte (einer ist doppelt so breit wie hoch; einer hat einen Anzug an, aber keinen Kopf), die in einem Gasthaus feiern. Hier arbeitet Dulcinée und trägt dabei wie alle anderen eine solide Kellnerinnenuniform. Als jedoch Don Quichotte auftritt und einen Haufen roter Rosenblätter über sie hinstreut, verwandelt sich dieses Outfit überraschend in ein leuchtend rotes, langes Kleid (in dieser Inszenierung wird sehr professionell gezaubert); und so sehen auch wir sie fortan mit den Augen ihres fantasiebegabten Verehrers.

Der große Kopf am Bühnenrand könnte gut das Haupt von Cervantes sein

Das Bild der schönen Blonden im roten Kleid wird den Ritter verfolgen, wird sich vervielfachen und absurd verrenken. Drei Frauen in roten Kleidern und langen blonden Haaren rund um den Kopf werden ihn in akrobatischen Posen umschwirren, ihre Hintern hochrecken und unten durch ihre Beine schauen. Eine von ihnen ist ein Schlangenmensch und kann sich in wahrhaft irrer Manier verbiegen. Es gibt viel zu staunen an diesem Opernabend. Die Wunder der Welt Don Quichottes zeigen sich in zahlreichen überraschenden Details, wozu auch einzelne Riesen-Gliedmaße aus Pappmaché gehören, die immer mal wieder vorübergetragen werden. Der große Kopf, der am Schluss am Bühnenrand hockt und sehr lebensecht blinzelt, könnte gut das Haupt von Cervantes sein. Und ist seine Phy­siognomie nicht dieselbe wie die des Riesen, der in der Räuberszene den Bühnenhintergrund bildet und mit offenem Mund schläft? Eine riesige, lange Zunge (sogar etwas weiß belegt) lappt daraus hervor, und viele buntschillernde Käfer krabbeln zu Beginn des dritten Aktes darauf und drum herum. Es ist, als würde der Cirque du Soleil Kafkas „Verwandlung“ aufführen.

Ahlbom findet großartige Bilder zu Massenets Musik, die ihrerseits ein kleinmotivisch gewebtes, unterhaltsam abwechslungsreiches Klangwerk ist, das mit allerlei hispanisierenden Anspielungen nicht geizt – im Gesangspart der Dulcinée glaubt man mitunter Bizets Carmen zu hören. Das Orchester der Deutschen Oper ist unter Emmanuel Villaume mit hörbarer Spielfreude am Werk. Der Chor agiert klanglich unglaublich homogen und auf eine dezent zurückgenommene Weise, die die surreale Anmutung der Massenszenen kongenial verstärkt und unterstützt.

Alex Esposito als Don Quichotte liefert eine solide Leistung ab, wirkt nur in seiner ganzen Haltung vielleicht etwas zu solide für einen grundguten, aber wirren Ritter von der traurigen Gestalt. Seth Carico hat als Sancho Pansa einen Knochenjob, denn er singt nicht nur sehr schön, sondern ist gleichzeitig das Pferd, das den Don tragen muss. Besonders beeindruckt Clémentine Margaine als Dulcinée mit klarem, auch in der Tiefe starkem Mezzosopran, charismatischer Bühnenpräsenz und der besten Aussprache. Am beeindruckendsten an diesem Abend aber ist, dass einfach alles stimmt. Es ist mal herrlich komisch und dann wieder von ergreifender Tragik. Wie viel beziehungsreiche Poesie im Surrealistischen stecken kann, bekommt man kaum jemals so vorgeführt: so wundervoll überraschend, hintersinnig und auch noch ästhetisch vollendet. Gern mehr davon!