Europawahl in Berlin: Grüner wird’s nicht!?
Die Grünen schneiden mit rund 28 Prozent doppelt so stark ab wie die im Senat führende SPD. Das wird die Kräfteverhältnisse verschieben.
Vom Wannsee bis zum Seddinsee im Südosten, von der Grenze zu Teltow bis zum Panketal im Norden: Acht von zwölf Bezirken der Karte sind mit Grün für die stärkste Partei eingefärbt. Nur wie bloße Farbspritzer muten sechs rote Kleckse an, die die Reste einstiger Vormacht der SPD zeigen – jener Partei, die doch den Regierungschef stellt.
Auch eine solche Umkehrung der Kräfteverhältnisse in einer Koalition gab es noch nicht. Doppelt so stark wie die SPD mit ihren gerade mal 14 Prozent haben die Grünen nun abgeschnitten – 2016 bei der Abgeordnetenhauswahl hieß es noch 21,6 zu 15,2 Prozent zugunsten der SPD. Faktisch hat sich auf Landesebene zwar nichts geändert: Das Rekordergebnis vom Sonntag bringt den Grünen keinen zusätzlichen Sitz im Abgeordnetenhaus und keinen weiteren Senatorenposten in der rot-rot-grünen Koalition.
Dennoch werden sich die Gewichte verschieben. Noch beim SPD-Parteitag Ende März hatte Michael Müller, enttäuscht von – aus seiner Sicht – mangelnden Zugeständnissen von Linkspartei und Grünen, angekündigt, man müsse „den Konflikt auch in der Koalition führen“. Doch womit will Müller, will die SPD denn ihren Partnern drohen? Mit dem Ende der Koalition und Neuwahlen? Nichts käme den Grünen gelegener, als so das Umfragehoch zu nutzen und erstmals den Posten des Regierungschefs übernehmen zu können.
Was die Grünen nicht wollen, wird fortan noch weniger als bislang Senatspolitik werden, trotz aller offiziellen Richtlinienkompetenz des Regierungschefs. Da kann Müller noch so oft daran appellieren, dass man doch vereinbart habe, auch den Partnern Erfolge zu gönnen – selbst linke Lagerverwandtschaft hat ihre Grenzen. „Ich bin bei den Grünen eingetreten, weil die Grünen für mich die beste Partei sind“, sagte Grünen-Chef Werner Graf vor ein paar Wochen der taz.
Seine geschwächte Rolle ist nicht nur für Müller misslich – sie kann auch offizielle Gesprächspartner des Regierenden Bürgermeisters irritieren. Die dürften sich fragen, ob sie überhaupt mit dem richtigen Mann reden, wenn dessen Partei so sehr auf dem Weg nach unten ist. Und ob sie sich nicht sicherheitshalber auch mit den führenden Grünen-Frauen Ramona Pop und Antje Kapek unterhalten sollten, der Wirtschaftssenatorin und der Fraktionschefin.
Es bleibt abzuwarten, ob die Grünen nicht der Versuchung erliegen, Neuwahlen zu provozieren – aus Furcht, ihr Umfragehoch könnte sich bis zur regulären erst im Herbst 2021 anstehenden Abgeordnetenhauswahl genauso verflüchtigen wie schon mal. 2010 und 2011 brachten ein Hype um die mögliche und dann tatsächliche Spitzenkandidatin Renate Künast und die Fukushima-Katastrophe die Partei zwischenzeitlich auf 30 Prozent und mehr. Bei der Wahl im Herbst 2011 blieben davon nur 17,6 Prozent übrig.
Wobei fraglich ist, wie sich Neuwahlen erklären ließen, wenn klar ist, dass die Koalition danach wieder aus einem Bündnis von Grünen mit SPD und Linkspartei bestünde – bloß nicht mehr als R2G, sondern GR2. Denn alle drei Parteien versichern bei allen kleinen und größeren Konflikten, dass zwischen ihnen größere Nähe als zu anderen bestünde.
Was angesichts der nicht nur für Statistikerin Rockmann so eindrucksvollen grünen Karte und dem fast kompletten Verschwinden der SPD davon in den Hintergrund gerät, sind die Verluste der Linkspartei gegenüber der Europawahl 2014. Die bewegen sich mit 4,3 Prozentpunkten in der gleichen Größenordnung wie die CDU mit 4,8. Keinen Erfolg hatte offenbar der Versuch, den EU-Wahlkampf mit Plakaten für das Enteignungs-Volksbegehren zu unterfüttern.
Bei keiner Partei ist der Unterschied zwischen der jüngsten Umfrage zur Landespolitik – 18 bis 20 Prozent – und dem Berliner Europawahlergebnis von 11,9 Prozent größer. Ob die Verluste auch Auswirkungen auf Landesebene haben, wird erst die nächste Umfrage zeigen. Immerhin ist die Linkspartei mit Rosa-Rot noch auf Rockmanns grüner Karte drauf – in Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf war sie auch am Sonntag stärkste Partei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen