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Von Arrullos und Alabaos

Die Songs von Nidia Góngora und ihrer Band Canalón de Timbiquí stehen in der Tradition der afrokolumbianischen Musikkultur von der Pazifikküste

Nidia Góngora Foto: Promo

Von Ole Schulz

In Timbiquí sei alles Musik, sagt Nidia Góngora. Das Rauschen des Meeres, die sich im Wind wiegenden Blätter, das rhythmische Geräusch, wenn Sand durch die hölzerne Batea, eine Goldwaschpfanne, rieselt. An der Pazifikküste Kolumbiens sind Rhythmus und Klänge Elemente der tropischen Natur, die auch die Materialien für die Instrumente liefert. Jedes Instrument hat eine Bedeutung: Die Marimba, so Góngora, repräsentiere das Wasser, das Frische verbreite und Ruhe ausstrahle. Die Trommeln dagegen symbolisierten Donner und Wellen, stünden also für Macht und Stärke, während die Guasá, eine Art länglicher Shaker, den häufigen Regen – mithin Reinigung – darstelle.

Wenn Nidia Góngora vor einem steht – groß, ausdrucksstark, mit aufrechter Haltung –, kann man gut nachvollziehen, welche Rolle die Frauen in der afrokolumbianischen Musik spielen. Während den Vokalpart zumeist Frauen übernehmen, ist den Männern die perkussive Begleitung vorbehalten.

Góngoras Heimatgemeinde Timbiquí liegt im abgelegenen Süden Kolumbiens; es ist eine Region, die von der Gewalt durch Milizen und den Drogenhandel besonders stark betroffen ist. Schon lange lebt Góngora in Cali, von wo aus die Sängerin ihre Band Canalón de Timbiquí leitet. Die Gruppe spielt vor allem mündlich überlieferte Lieder einer synkretistischen Kultur; langsame Arrullos zur Anbetung der Heiligen ebenso wie frenetische Currulaomusik bei Festen. Zum lieblichen Klang eines Marimba-Xylofons und den repetitiven Rhythmen von Guasá-Rasseln und Bombo-Trommeln, die das westafrikanische mit dem lateinamerikanischen Erbe verbinden, ertönt ein mehrstimmiger Frauenchor.

Für Góngora ist die Beschäftigung mit den Traditionen kein Selbstzweck. Kenntnisse und Wissen weiterzugeben helfe, „die eigene Geschichte zu verstehen und sich besser gegen Vertreibung zu wehren“ – die Landfrage ist auch in Timbiquí das vielleicht drängendste Thema. Am neuen, gerade erschienenen Album von Canalón de Timbiquí, „De mar y río“, haben gleich drei Generationen mitgewirkt; es ist eine weitere Hommage an ihre Heimat und unterstreicht die soziale Funktion der Lieder, deren Entstehungskontext oft noch bekannt ist. „La casa de la compañía“ geht etwa auf Heiligabend im Jahr 1955 zurück, als die Bewohner zum Feiern im größten Gebäude im Dorf zusammengekommen waren. Spät in der Nacht entschied der Eigentümer der einzigen Petroleumlampe, nach Hause zu gehen – und ließ die Verbliebenen im Dunkeln zurück. Nicomedes Balanta schrieb einen Song darüber.

Daneben bringt Góngora seit gut zehn Jahren gemeinsam mit dem britischen, in Cali ansässigen Produzenten Will Holland (aka Quantic) regelmäßig einzelne Songs raus – oft Remixe alter Lieder. 2017 produziert Quantic schließlich Góngoras Debüt „Curao“, bei dem eine analoge Instrumentierung und feine elektronische Beats ihre klare Stimme in den Vordergrund stellen. Ihre Musik sorgte mit dafür, dass die Marimba-getriebenen Rhythmen vom Pazifik aus dem Schatten bekannterer kolumbianischen Stile (Cumbia, Champetas) hervortraten.

Ob das traditionelle Marimbaspiel die kommenden Generationen überleben wird, ist fraglich. 2015 wurde das Instrument noch zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt. Doch allein das Wissen darum, wie es auf herkömmliche Weise hergestellt wird und wie mit dem Holz der Chonta-Palme umzugehen ist, schwindet zunehmend. Mit jedem „Marimbero“, der stirbt, geht ein Stück Wissen verloren.

Góngora weiß um die Gefahr, dass Kulturgut in Vergessenheit gerät – sie reagiert darauf, indem sie Tradition bewahrt. 2018 widmete sie sich in einer Ausstellung den Totenliedern (Alabaos) – erstmals gelangten diese kraftvollen A-cappellas dabei überhaupt auf einen Tonträger. Das Ritual dazu: Bevor die Seele des Toten friedlich ins „El más allá“, das Reich zwischen Himmel und Erde, entschwindet, werden neun Nächte lang gemeinsam Alabaos gesungen.

Canalón de Timbiquì: „De mar y río“ (Llorona Records 2019)

Ángeles del cielo oigan mi voz: „Alabaos. Timbiquí, Cauca, Colombia“ (Llorona Records 2018)

Nidia Góngora & Quantic: Curao (Tru Thoughts/Groove Attack 2017)