Manchmal Wahrnehmungsstau

PAKISTAN Ein Land verschwindet hinter Feindbildern: Dem will die Performance „Pakistan (does not) exist“ mit vielen Stimmen aus dem Land begegnen

„Wenn ich Geld hatte, habe ich es ausgegeben. Und wenn ich keines hatte, habe ich Zeitungen verkauft.“ Nachdenklich bläst der 82-jährige Philosoph und Anwalt Raza Kazim eine Ladung Zigarettenqualm vor die Kameralinse. Der Fernsehbildschirm, von dem aus er seine Geschichte erzählt, ist Teil der Installation „Pakistan (does not) exist“ im Theater Vierte Welt am Kottbusser Tor. Über 30 Vertreter des intellektuellen, politischen und wirtschaftlichen Establishments haben Dirk Cieslak, Annett Hardegen und Ayat Najafi auf ihrer Reise durch Pakistan zum Rapport gebeten und ihre Geschichten in eine Performance gebettet.

Am 11. September luden sie zum Premierenabend. Ausgerechnet. Oder erst recht? Pakistan, findet das Team, ist zu einer verlässlichen Angstmaschine geworden. Die Geschichte des Landes, das 1947 ein britischer Kolonialbeamter via Lineal erfand, verschwände in unseren Köpfen zunehmend hinter Anschlagsszenarien, Atombomben und Taliban-Bärten. Zwei Wochen lang fuhren die Theatermacher deshalb durch die „No-go-Area“, ihre Kamera immer im Gepäck.

Mit einem Knopfdruck leitet Johannes Dullin den Performance-Abend in Kreuzberg ein, und die Bildschirme springen an. Verkehrslärm, Sprachfetzen, Eselskarren. Zum Stilmittel der Stunde wird die Pausentaste, und statt Speisen werden den Tischgästen Anekdoten kredenzt. Sehen sie das Bild, das da hängt? Das köstliche Essen! Und heiß, so heiß war es! Pause. Und Dullin geht von Tisch zu Tisch, um der Doku mit seinen Erzählungen eine neue Dimension zu verleihen.

In Pakistan behält derweil der fünfjährige Ari, Sohn der Theatermacher Dirk Cieslak und Annett Hardegen, das Wort. Die Geschäftsleute, Unternehmer und Künstler, mit denen seine volljährigen Begleiter sprechen, beeindrucken ihn nicht halb so stark, wie es Basarstände, Schlangenbeschwörer und Burkaträgerinnen tun. „Schau, so schwarz! Wie Räuber!“

Noch mal zurückspulen …

Da sitzt er also, der Theatergast, schaut durch die Brille eines fünfjährigen Jungen, wälzt die Gedanken eines grauhaarigen Philosophen im Kopf und betrachtet Hochhäuser, Ladenfronten und zahnlückige Männer mit Zukunftsträumen. Raza Kazim sinnwandelt über den Marxismus und die große Wissensexplosion. Der Bilderfluss, die Untertitel, die parallele Beschallung von Film- und Realton des mal stehenden, mal laufenden und mal singenden Johannes Dullin greifen teils gut ineinander, teils führen sie zum Wahrnehmungsstau. Ob man nicht noch mal zurückspulen …?

Oder sollen es gerade diese Film- und Audio-Fetzen sein, die sich im Kopf zu einem neuen Länderbild fügen? Während in Pakistan eine Designerin die Schönheit ihres Landes preist und ein neunjähriges Mädchen Spenden sammelt, öffnen sich immer neue Perspektiven.

Es ist eine ausgewählte Gruppe, die hier zu Wort kommt. Die nach ihren Gedanken zur Zukunft und zum Ist-Zustand Pakistans befragt wird. Und es ist sicher keine repräsentative Stichprobe. Aber es ist der Versuch, wieder Bewegung in ein statisches Bild zu bringen. Und aus der Angstmaschine wieder ein existierendes Land zu machen. Das gelingt, und der in der Moschee Purzelbäume schlagende Ari hat daran den Hauptanteil.

Trotz allem bleibt ein Nachgeschmack. Von Korruption. Von Drohnenangriffen. Von alten und neuen Feindbildern. Und an vielen Stellen hätte die Interaktion zwischen Ein-Mann-Performance und filmischer Dokumentation noch sensibler und pointierter ablaufen können. Doch der rauchende Kazim aus der Millionenstadt Lahore ist zuversichtlich: „Lösungen sollen schließlich aus Problemen entstehen.“ SARAH ZIMMERMANN

■ „Pakistan (does not) exist“, wieder am Fr. 14./ Fr. 21./ Do. 27./Sa. 29. September und Do. 11./Sa. 20./Do. 25. Oktober, jeweils um 20 Uhr in der Vierten Welt