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: Alte Männer vor Gericht

Abermals wird in Hamburg ein Über 90-Jähriger wegen NS-Verbrechen angeklagt. Woher kommt das Gefühl, dass das nicht genügt?

Oskar Gröning, der „Buchhalter von Auschwitz“, in einer Verhandlungspause vor dem Hintereingang des Gerichts in Lüneburg Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Gute Arbeit

Ich beobachte schon seit Langem die juristische Aufarbeitung der Verbrechen des III. Reiches. Insbesondere Friederike Gräffs „Schuld der alten Männer“ ist eine hervorragend gelungene Zusammenstellung des aktuellen Zustandes. Angesichts der grottenschlechten Qualität „normaler“ Zeitungen eine schöne Erinnerung, dass man auch im Tageszeitungsformat wirklich gute Arbeit machen kann. Rainer Sonntag, per Mail

Der Propaganda ausgesetzt

Es ist ja nicht die Schuld der alten Männer, sondern die Schuld von Jugendlichen. Zwiegespalten sehe ich diese Prozesse vor allem, weil die Täter zwar technisch gesehen schuldig im Sinne der Anklage sind, damals aber kaum eine echte Wahlfreiheit hatten. Wer 1945 erst 17 war, der war zur Machtergreifung 5 und wurde spätestens mit dem Schuleintritt der Propaganda der Nazis ausgesetzt.

Wenn man dann vor die Wahl gestellt wird entweder Wache in einem KZ zu schieben oder einen mehr oder minder sicheren Tod im Krieg zu finden, dann dürfte die Wahl den meisten nicht allzu schwer gefallen sein und das nachvollziehbarerweise. Wer von sich selber gerne denkt, er wäre selbstredend Teil des Widerstands geworden, dem lege ich eine Rückbesinnung auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung nahe. Wer in der Gegenwart sozialisiert wird, der denkt natürlich anders als die Deutschen es in der Zeit der Nazis getan haben. Dass nicht zu vergessen, erfordert nur ein Minimum an Selbstreflektion.

Janus, taz.de

Gültiger Rechtsraum

Gute Einlassung. Aber die Zweifel ergeben sich noch aus einem weiteren Grund, der nicht thematisiert wird. Der Wachmann war zur Tatzeit ein Jugendlicher, der in einem damals gültigen Rechtsraum agierte. Nur wenige dürften geistig und real in der Lage gewesen sein, das auszublenden, Feindsender zu hören und sich an von anderen propagierten Menschenrechten zu orientieren.

Da hinterlässt ein sich wandelndes Rechtssystem dann doch einige Fragen, auch wenn eine Aufklärung unbedingt notwendig ist. fly, taz.de

Rückwirkungsverbot

Ich habe da noch einen Widerspruch im Kopf, den ich nicht aufgedröselt bekomme.

Es gilt in Deutschland das Rückwirkungsverbot. „Das Rückwirkungsverbot sagt aus, dass zu einem späteren Zeitpunkt erlassene Gesetze nicht auf einen früher stattgefundenen Sachverhalt angewendet werden dürfen.

Im Strafrecht gilt das absolute Rückwirkungsverbot. Was zur Zeit der Tatbegehung nicht strafbar war, kann nicht im Nachhinein mit Strafe bedroht werden.“

War das Verhalten der Wachmän­ner/-frauen vor 1945 auch schon strafbar, oder ist das Rückwirkungsverbot dann doch nicht so absolut?

Limits2Growth, taz.de

Nürnberger Klausel

@Limits2Growth Dazu passt die sogenannte Nürnberger Klausel, die besagt, dass trotz fehlender geschriebener Strafregeln eine Tat bestraft werden kann, „die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war“.

Wie der Name schon sagt, wurde sie im Zuge der Nürnberger Prozesse entwickelt und relativiert das Rückwirkungsverbot in der Tat.

Premium58, taz.de

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Whitewashing

Ich sehe einen ganz anderen Grund für mein Unbehagen bei diesen Prozessen.

Die Prozesse werden von einem Staat angestrengt, und zwar nicht irgendeinem Staat, sondern von dem selben Staat, dessen Beamte den NSU beschützt und unterstützt haben, bei der NPD für gefühlt mehr als 50 Prozent der gesamten politischen Aktivität verantwortlich sind, und die auch sonst immer wieder durch rechtsex­tremistische Einlassungen und Handlungen auffallen, die eines zivilisierten Landes schlicht unwürdig sind.

Die Strafverfolgung dieser „alten Männer“ ist daher eben gerade nicht dem Zwang geschuldet – der besteht nämlich auch bei der Strafverfolgung von Beamten, die den NSU unterstützt haben. Die Staatsanwaltschaften können sehr wohl auswählen, welche Taten sie verfolgen und für welche sie leider, leider keine Zeit haben.

Vielmehr findet meines Erachtens die Strafverfolgung mit dem Ziel statt, ein Feigenblatt zu liefern, um sagen zu können: „Was, wir? Nazis? Aber nicht doch, seht nur, wir haben da doch mal ein paar alte Männer verurteilt.“ Das Ganze ist meiner Meinung nach nicht mehr als Whitewashing, mit dem Ziel, von den aktuellen Nazi-Problemen abzulenken.

kleinalex, taz.de