DER SOUNDTRACK EINES SOMMERS

Im Sommer 1979 wartete Michael Quasthoff in Hannover auf die Liebe, das Glück im Lotto und darauf, dass die Rhythmusgruppe der Punkband HANS-A-PLAST endlich die Gitarre einholte. Eine Erzählung von der Familie Konietzka in der Gretchenstrasse, Obertonkaskarden und Rock’n ’Roll-Freitagen

von Michael Quasthoff

„Ping! Ping! Ping! Ping! Ping!“ Der Soundtrack des Sommers 1979 begann mit einem zweigestrichenen im Dreisekundentakt wiederholten Fis. Es erklang stets fünfmal, addierte sich also zu einer Sequenz von exakt zwölf Sekunden.

Genau soviel Zeit brauchte der alte Konietzka, um fünf leere Halbliterflaschen Herrenhäuser Pils in seiner Aktentasche zu verstauen. Unter der Woche hörte ich das erste Fis pünktlich um 6.30 Uhr. Sonntags um 9.00 Uhr. Hatte Konietzka die Fracht versenkt, ließ er den Verschluss einschnappen, trat vor den Spiegel, zog seinen Scheitel gerade, bürstete die Schuppen vom Jackett und federte hinüber zur Nebgen-Bude, wo man ihm anstandslos die fünf leeren gegen fünf volle Flaschen tauschte. Diese verstaute er wiederum in seiner Aktentasche, verschloss das Behältnis sorgfältig und trabte zurück, nicht ohne dem der täglichen Ausbeutung entgegen schlurfenden Proletariat joviale Morgen-Grüße in die zerknitterten Gesichter zu bellen.

Arbeitsstelle: Rohbau

Ich gehörte auch dazu. Jedenfalls in diesem Sommer. Meine Arbeitsstelle war der Rohbau von Pelzhaus Böker in Bahnhofsnähe, wohin mich das unergründliche Schicksal in Gestalt eines studentischen Arbeitsvermittlers expediert hatte. Zusammen mit den Herren Jinja und Buma, zwei pechschwarzen Häuptlingssöhnen aus Uganda.

Erstaunlicherweise war die Hautfarbe das einzige, was die angehenden Betriebswirte von dem bei Böker in drei Akkordschichten herum mörtelnden Bautrupp unterschied. Jinja und Buma ragten so hoch und breit in den Himmel wie das Ruwenzori-Gebirge, fluchten wie Kameltreiber und vertrugen einen Stiefel, in den ganz Italien gepasst hätte. Ihre Lieblingsworte waren „Sseisse“ und „fickificki“.

Ich bin eher schmächtig und kann Latein. Ich war der Depp der Baustelle. Ich fegte Schutt oder ging Bier holen.

Eine Aktentasche brauchte ich nicht. Ich holte das Bier immer mit der Schubkarre. „Ping! Ping! Ping!“ machten die Flaschen, wenn ich die Fuhre über den Parcours aus staubigen Holzbohlen balancierte. „Klack! Klack! Klack!“ machten die Kronkorken, die die Maurergesellen mit den Zähnen von den Flaschen rissen. „Paff!“ machte es, wenn der Polier mir seine schaufelgroße Pranke an den Hinterkopf knallte und „Du Arschwisch“ brummte, weil meine Weigerung, vor der Mittagspause mit der Sauferei anzufangen, zwar hingenommen, aber wenigstens fachgerecht quittiert werden musste.

Weitere Invektiven verstand ich nicht. Sie versanken im Gewitter von Pressluftgehämmer und kreischenden Metallsägen.

Klimax nach Feierabend

Um 18 Uhr war Feierabend. Ich hatte fünfzig Kubikmeter Schutt bewegt, elfmal Nachschub geholt und fünf Kopfnüsse kassiert, also summa summarum sechs Halbe intus. Außerdem Muskelkater und einen veritablen Tinitus. Kurzum: Ich brauchte nichts dringlicher als Ruhe. Daran war aber nicht zu denken.

Ich bewohnte damals die Hälfte einer Zimmerflucht in der Gretchenstraße 24. Die Adresse umflort heute eine gewisse lokale Berühmtheit. Im Sommer 1979 war es einfach das Haus, in dem ich fast wahnsinnig wurde. Kaum hatte ich zermürbt von Dreck, endloser Plackerei und Alkohol meine Heimstatt erreicht, strebte der Soundtrack jenes Sommers auf eine weitere dramatische Klimax zu, gegen die sich der Baulärm ausnahm wie ein Schluckauf beim Mötorhead-Konzert.

Der alte Konietzka hatte es mittlerweile ein rundes Dutzend Mal zum Kiosk geschafft. Man sah es ihm nicht an. Er stand gewöhnlich wie aus dem Ei gepellt im Flur, verpackte Pfandflaschen und gestikulierte, wie um mir etwas schwer Bedeutendes mitzuteilen.

Der Inhalt seiner Rede blieb allerdings dunkel. Denn durch den Fußboden fräste jetzt in ohrenbetäubender Lautstärke das Sechzehntelgewitter einer E-Gitarre. Gut einen Vierteltakt hinterdrein hörte man Bass und Schlagzeug rumpeln. Gleichzeitig heulte eine Dame los, als operiere ihr jemand ohne anästhetischen Beistand die Mandeln heraus: „Ich gehe in die Kneipe,/ es ist immer die gleiche/ wart auf irgendwas und besauf mich dabei./ Es ist wieder mal ein Rock’n’Roll-Freitag“.

Konietzka deutete auf seine Ohren, dann auf den Teppich und schüttelte verständnislos den Kopf. Rock’n’Roll-Freitage waren nicht sein Thema. Bei Konietzka strömte das Pils die ganze Woche über wie ein ruhiger breiter Fluss. Ich dagegen wartete ebenfalls. Auf die Liebe, das Glück im Lotto, vor allem aber darauf, dass die Rhythmusgruppe endlich die Gitarre einholte. Manchmal schaffte sie es. Dann klang es gar nicht so übel.

Johnny Rottens Fürze

Die Band hieß HANS-A-PLAST und nutze die Wohnung unter uns als kombinierten Wohn- und Übungsraum. Das Studentenquintett hatte sich dem keimenden Punkrock verschrieben. Ich fand das gesamtästhetisch etwas heikel. Denn so weit ich wusste gab es in der WG nur ein Wesen, das Jonny Rotten, dem einzigen Punk, den ich damals kannte, immerhin entfernt ähnlich sah. Das war Bomber, eine ausgefranste Promenadenmischung, die regelmäßig das Treppenhaus vollkotzte, Hosen und Jacken mit übelriechendem Auswurf besabberte und eine Spur horribler Fürze hinter sich her zog.

Nur an Konietzka Junior hatte Bomber einen Narren gefressen. Was daran lag, dass die beiden des öfteren gemeinsam erbrachen und olfaktorisch eine verwandte Aura verbreiteten. Der alte Konietzka verklappte das in der Aktentasche unermüdlich herangeschaffte Quantum nämlich nicht allein, sondern teilte es redlich mit seinem Erstgeborenen und dessen arbeitsscheuen Kumpanen.

Leider besaßen sie nicht das Stehvermögen des Seniors. Spätestens wenn die Sonne versank, war bei den Strolchen Land unter. Dabei gingen nicht nur diverse Möbel und Knochen zu Bruch. Die verheerendsten Verwüstungen richtete der Alkohol im Sprachzentrum der Saufbrüder an. „Pottsau“, trompetete es durch den Flur „Sackratte“ oder „Ich schlag’ Dich die Fresse ein, Du Tier“, während ich im Bett lag und so verzweifelt wie vergeblich versuchte, mich auf Arno Schmidts „Schule der Atheisten“ zu konzentrieren.

Nahm ich unvorsichtigerweise die Oropaxstöpsel heraus, vemochte ich schon gar nicht mehr zu beurteilen, wer Sentenzen wie „Hau ab, Du stinkst, sieh lieber zu, wie Du es bei deiner Alten bringst“ kreiert hatte. Die Konietzkas oder die Combo aus dem zweiten Stock. Es half auch nichts, dass ich ab und an mein Alt-Saxophon zusammensteckte, um das akustische Inferno mit Albert Aylerschen-Obertonkaskaden in die Schranken zu weisen. Man wusste es einfach nicht zu würdigen. Die Trinker dachten, es sei Mutter Konietzka, die einen ihrer chronischen Kreischanfälle auslebte, weil sie Bier wie Männer gründlich satt und beschlossen hatte, in einem Paralleluniversum Asyl anzumelden. Von unten indes punkte es hämisch: „Wie fühlst du dich mit einem Gesicht, das zu Plastik geworden ist?“

Ich bin ein Polizeiknüppel

Ich fühlte mich immer schlechter. Denn selbst in den tiefen Nachtstunden, wenn den Konietzkas tatsächlich mal das Bier und bei HANS-A-PlAST die Verstärker ausgegangen waren, rumorte durch meinem Schädel („Ping, ping, ping“) ein zweigestrichenes im Dreisekundentakt wiederholtes Fis, ich hörte Preßluftgehämmer und kreischende Metallsägen, die Kronkorken machten „Klack, klack, klack“ und der Polier bearbeite „Paff, paff, paff“ meinen Hinterkopf, oder war es doch der neuste Smashhit der Punkrocker: „Ich bin dem Bullen sein stärkstes Glied,/ ich bin ein Polizeiknüppel,/ ich bin ein Polizeiknüppel/ ich bin ein Polizeiknüppel.“

Es kam so weit, dass ich ernsthaft erwog, ob ich es wie Mutter Konietzka machen sollte. Oder wie Nachbarin Ivonne, eine Freundin meines Mitbewohners Andi „Arbeit“ Hahn, der der globetrottenden Elfe für zwei Monate sein Zimmer überlassen hatte. Sie war ein Jahr in Thailand unterwegs gewesen. Jetzt saß sie zugekifft bis unters Dach in Andis Zimmer, wärmte sich am Diaprojektor und starrte 24 Stunden lang eine Wand an, auf der sich thailändische Sonnenuntergänge, thailändische Hausschweine und grienende thailändische Drogendealer materialisierten.

Leider waren das keine Alternativen, mir bekam Marihuana nicht und ich musste arbeiten. Die Lage änderte sich allerdings radikal, als der Soundtrack dieses erschütternden Sommers durch eine Feuerwehrsirene komplettiert wurde. Sie heulte an einem strahlenden Sonntagmorgen durch die Gretchenstraße, zwei Wochen nachdem Ivonne aus- und Andi wieder eingezogen war. Ich wurde an diesem Tag nicht durch das zweigestrichene Fis geweckt, sondern durch den alten Konietzka persönlich. Er klopfte, steckte den wie immer akkurat gescheitelten Kopf durch die Tür und sagte: „Es brennt“.

Es brennt

Das war an sich nichts neues. Die Trinkerfraktion ließ über Nacht öfter mal ein paar glimmende Kippen im Teppich stecken. Ich schlurfte gemächlich in die Küche, wo Andi schon einen Eimer mir Wasser füllte, um die Auslegeware zu löschen. Diesmal brannte aber nicht der Teppich, sondern Frau Konietzka. Sie hatte endgültig genug vom Leben, ihren Körper mit Benzin übergossen und angezündet. Die Feuerwehr kam zu spät. Noch Tage, nachdem man die entstellte Leiche abtransportiert hatte, hing das faulig süße Aroma verbrannten Fleisches in der Luft. Wir zogen aus.

HANS-A-PLAST spielten im selben Jahr ihre erste LP ein. Darauf fand sich der Song „Was tun, wenn es brennt“. Die unter bewährt brachialem Holterdipolter hervor gequetschte Antwort lautete: „Ruhe bewahren“. Klang vernünftig. Hab ich also gemacht. Kurz darauf waren HANS-A-PLAST die berühmteste Punkband Deutschlands und spielten auf dem „Die Zukunft hat keinen Namen“-Festival. Hatte sie aber doch. Sie hieß „Neue Deutsche Welle“ und war so ungefähr das Grausigste, was dem menschlichen Ohr je angetan wurde. Drei Jahre später löste sich die Band auf.

PS. Ich saß zu der Zeit mit Freund Dietrich ganz entspannt auf einer Kleinkunstbühne und bot selbst gemachte Folk-Songs feil. Dabei lernte ich eine junge Frau namens Renate kennen. Wie sich herausstellte, hatte sie im Sommer 1979 ebenfalls in der Gretchenstraße 24 gewohnt. Sie war die Bassistin von HANSA-A-PLAST. Ich fand Renate reizend und bin nicht nachtragend. Seitdem teilen wir Tisch und Bett.

HANS-A-PLAST: „HANS-A-PLAST“, Blanko Music 1979, 2004 wiederveröffentlicht bei No Fun