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Der bröckelnde Firnis der Zivilisation

Sewan Latchinian ist neuer künstlerischer Leiter der Hamburger Kammerspiele. Für seinen Regie-Einstieg setzt er mit Flavia Costes „Nein zum Geld!“ ganz auf Boulevard

Den Verlockungen des Geldes erlegen: Das locker komödiantische Dialog-Ping-Pong wird bald zum Kampf Foto: Bo Lahola

Von Jens Fischer

Plötzlich reich. So richtig reich. Laut des Global Wealth Reports 2018 gibt es weltweit 150.000 Menschen, die mehr als 50 Millionen Euro besitzen, in Deutschland lebten 6.330 dieser Spezies. Dazuzugehören dank sechs Richtiger im Lotto, davon träumen viele. Nicht weil ein Bad in Goldtalern irgendwie angenehm ist oder ein mit 500-Euro-Scheinen gebauter Joint schöner qualmt als der aus Zigarettenpapier.

Aber als Essenz der ökonomischen Realität setzt Geld reichlich Fantasien frei angesichts seines alchemistischen Zaubers, sich jederzeit in ein begehrtes Gut verwandeln zu lassen. Kaum etwas wirkt so inspirierend wie die Zahlenkolonnen der Lottomillion auf dem Kontoauszug. Sie symbolisieren und verheißen Verfügungsmacht über die Wirklichkeit. Endlich selbst bestimmen, was man den lieben langen Tag so anstellt und wo Vermögen sinnvoll einzusetzen ist.

Beispielhaft für dieses Denken erklären in der neuen Produktion der Hamburger Kammerspiele „Nein zum Geld!“ die Gattin Claire, der Freund Etienne (Ulrich Bähnk) und Mutter Rose (Hannelore Droege) dem eigenbrötlerischen Richard, wie er mit seinem 126-Millionen-Euro-Gewinn die Welt ein wenig verbessern könnte. Sie argumentieren, predigen, schreien ihre Position heraus, werden schließlich immer sarkastischer, ratloser, verzweifelter.

Denn Richard bleibt ungerührt bei seinem Entschluss, den Gewinn nicht anzunehmen. Erstens spiele er nicht, um zu gewinnen, sondern nur in Gedenken an den geliebten Vater dessen Lieblingszahlen. Zweitens hat er Studien gelesen, laut derer vielen Lottomillionären der Geldsegen schnell zur Last wurde angesichts einer Armada von Bittstellern, Anlagenberatern und Höflingen sowie dem schalen Erlebnis: Wer sich alles kaufen kann, verliert schnell die Lust daran. Was Verlangen nach immer aufwendigeren Kaufräuschen weckt.

Drei Viertel der über Nacht zu Millionen gekommenen Spieler haben Statistiken zufolge das Geld in wenigen Jahren verbraucht und müssen wieder bei null anfangen. Daher will Richard dort verharren. Denn Geld mache nicht glücklich, behauptet er binsenweise, Reichtum sei immer ein Angriff auf den Charakter und versaue die menschlichen Beziehungen.

Ist er ein lebenskluger Sozialpsychologe oder ein anarchistischer Held? Als Kommunist und Idiot beschimpfen ihn die Figuren des Stücks. Darsteller Götz Schubert zeigt, dieser Richard glorifiziert sich – barfuß in Jesuslatschen – als neuen Messias, hat als verklemmter Kleinbürger aber keine Befähigung zum Visionär, ist eine lächerliche und bleibt eine zerrissene Figur.

Während sich seine Familie aus ihrer Spießerhölle heraussehnt, regiert beim Protagonisten schlicht Angst, es könnte sich irgendetwas ändern. Daheim konnte er sogar einen Traum verwirklichen: Sein Mietkabuff lässt sich durch ein- und ausklappbares Mobiliar als Küche, Ess-, Wohn- und Arbeitszimmer nutzen. Auch für Bühnenbildgags. Eine prima Pop-up-Installation (Ausstattung: Stephan Fernau).

Die Inszenierung ist Sewan Latchinians Regie-Einstieg als frisch engagierter künstlerischer Leiter der Kammerspiele. Zuletzt hatte er 2014 einen Führungsjob als Intendant des Volkstheaters Rostock angetreten und war schon ein knappes Jahr später vom Bürgermeister wieder entlassen worden, weil er die verlangten Spartenschließungen nicht umsetzen wollte. Kammerspielchef Axel Schneider holte ihn nun, um etwas gegen seine Arbeitsüberlastung, die künstlerische Stagnation des Hauses und den etwas bröckelnden Zuspruch für das Programm zu tun.

Als komödiantisch berserkender Hauptdarsteller hat Latchinian schon die „Nervensäge“-Produktion zur flotten Klamotte mitgestaltet. Als Regisseur setzt er nun auf Boulevard. Versucht hierbei aber weder die Königsklasse der zeitgenössischen französischen Konversationskomödien, also Werke Yasmina Rezas, noch die Stücke des Autorenduos Matthieu Delaporte/Alexandre de la Patellière, sondern nutzt eben den psychologisch und satirisch weitaus schlichteren Text Flavia Costes.

Den Latchinian aber klug entwickelt. Er startet den Abend beiläufig mit müdem Ehe-Realismus. Selbst befreit von Vater- und Hausarbeitspflichten, drömelt Richard so vor sich dahin, seine Claire (Juschka Spitzer) irrwischt den Alltag, will gleichzeitig aber auch sexy sein und wieder Sex haben – nach der Geburt des Kindes. Hübscher Verfremdungseffekt: Die jungen Eltern sind hier so in den Fünfzigern.

Wenn die geladenen Dinner-Gäste eintrudeln, zieht das Tempo mit locker komödiantischem Dialog-Ping-Pong an. Auch wenn die Witze flau sind, so dass auf der Bühne lauter als im Parkett gelacht wird. Klassisch für die Dramaturgie solcher Demaskierungsdramen wird bereits nach 20 Minuten der zweite vierfache Whiskey gekippt – was alsbald eine grelle Typen-Comedy zur Folge hat.

Nun kommt alles auf den Esstisch, was bisher unter den Teppich gekehrt wurde: Animositäten, Vorwürfe, Enttäuschungen, Abrechnungen. Gleichzeitig entwickelt sich der Abend schlauer als gedacht, denn die Perspektive auf die verweigerten Millionen verschiebt sich. Richards anfängliche Monologe gegen eine Welt, die moralische gegen monetäre Werte getauscht hat, kamen aufgrund des eitlen Menschenfeindgehabes recht unsympathisch rüber, jetzt bekommt der Millionenverweigerer peu à peu Recht.

Denn überdeutlich wird, dass allein die Aussicht auf Reichtum den Firnis der Zivilisation bröckeln lässt. Als sich der angeblich abgelaufene Lottoschein als noch gültig erweist, also eingelöst werden könnte – mutieren die eh wenig differenzierten Figuren vollends zu schmeichlerischen Fratzen. Als das nichts hilft werden sie zu Raubtieren.

Dass die Verlockungen des Geldes aus Menschen asoziale Wesen machen, ist Latchinians wenig originelle These. Die aber vielleicht im schmucken Grindelviertel der Kammerspiele und angesichts der feisten SUV-Parade vor dem Eingang umso notwendiger und schlüssiger erscheint.

Obwohl Latchinian die dynamische Steigerung in die finale Groteske nicht in aller Perfidie gelingt und die Kammerspiele künstlerisch auch nicht plötzlich wieder superreich erscheinen, haben sie doch einen Vitalitätsstupser erlebt. Da geht noch mehr.

Mi, 8. 5. bis Sa, 11. 5., 20 Uhr, Hamburger Kammerspiele, Termine bis 1. Juni

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