„Wir verlieren einen großen Teil der Natur“

In dieser Woche beraten Wissenschaftler aus den 132 Mitgliedstaaten des Weltbiodiversitätsrats über den drastischen Artenschwund. Der birgt auch für Menschen viele Gefahren, sagte Insektenforscher Josef Settele

Der Artenschwund wird sich auch am Frühstückstisch auswirken, warnt Settele. Das betrifft nicht nur die Wespe, auf die viele vermutlich gut verzichten könnten, sondern auch Marmelade und Honig, die es ohne Bienen nicht gäbe Foto: Peter Jülich/Agentur Focus

Interview Hanna Gersmann

taz: Professor Settele, die britische Zeitung Guardian schrieb vor Kurzem zum Massensterben der Insekten, das sei nur der Anfang – „wenn sie gehen, gehen wir“. Stimmt das?

Josef Settele: Die Insekten werden nie gehen. Die Mücken zum Beispiel werden durchkommen.

Die Mücken?

Sie könnten mehr werden, wenn die Vögel schwinden, die die Mücken fressen. Allerdings gibt es auch noch die Fische, für die die Mückenlarven Nahrung sind. Das sind natürlich alles komplexe Systeme. Aber immer wenn die Gegenspieler ausfallen, geht es anderen besser – Schädlingen zum Beispiel.

Welche Plagen meinen Sie?

Die meisten Menschen ernähren sich von Reis. Auf den Feldern tritt die braune Reiszikade massenhaft auf, wenn die Bauern zuvor viele Insektizide spritzen. Das hört sich paradox an. Aber sie hält dem Gift besser stand als ihre Gegenspieler, das sind Libellen, Spinnen oder auch Wanzen. Also sterben die zuerst – und die Zikade vermehrt sich prächtig. Und die ist zwar nur wenige Millimeter groß, sorgt aber für immense Schäden. Die Reispflanzen bleiben mickrig, sie werden braun, sie sterben ab. Die Gegenspieler kommen zwar irgendwann auch wieder, aber sie kommen zu spät, um den Landwirt von Ernteverlusten zu verschonen.

Ist das die Zukunft – welche grundsätzlichen Entwicklungen sehen Sie nach drei Jahren Arbeit an der größten Bestandsaufnahme zum Zustand der Natur des Weltbiodiversitätsrats? Der wird diese Woche beraten und nächste verabschiedet.

Was wir derzeit erleben, schlägt sich nicht alles in Ernteausfällen, in monetären Verlusten, nieder. Aber wir verlieren einen großen Teil der Natur. Der Artenschwund ist nach den neuen Daten nicht gestoppt, er hat sich zum Teil sogar beschleunigt. Zum Teil leiden ganze Ökosysteme. Tropische Regenwälder etwa am Amazonas, in denen unzählig viele Tierarten leben, werden abgeholzt. In der Taiga in Sibirien oder der Mongolei, auch in der baum- und strauchlosen arktischen Tundra tauen mit dem Klimawandel nach und nach Regionen auf.

Und in Europa?

Da verlieren wir – wenn man so will – die Motive des Landschaftsmalers der Romantik, Caspar David Friedrich. Anders gesagt: die reich strukturierten Kulturlandschaften. Die Wacholderheiden auf der Schwäbischen Alb schrumpfen, auch in der Lüneburger Heide. Früher zogen durch die Regionen Schafe, Ziegen, auch mal Rinder. Das gibt es heute kaum noch. So können dort Fichten, Kiefern, Schlehen ungehindert wachsen. Die nehmen vielen seltenen Pflanzen das Licht. Die Menschen merken das, die Heimat ist nicht mehr so, wie sie war. Das ist ein Verlust.

Das ist das einzige Problem?

Auf keinen Fall, wir geben auch die Versicherung für die Zukunft auf, wenn wir den Artenverlust nicht stoppen. Wir wissen nicht, ob wir noch eine Art besonders brauchen werden, weil sie zum Beispiel Obst oder Gemüse bestäuben kann und einspringen muss, weil andere Arten durch den Klimawandel, Parasiten oder Ackergifte ausfallen. Vielfalt ist immer hilfreich.

Was würde es für die Ernährung bedeuten, wenn die Bestäubungsarbeit von Bienen und Hummeln wegfällt?

Schon das Frühstück wäre deutlich übersichtlicher, es gäbe natürlich kein Honigbrötchen, aber auch keines mit Erdbeermarmelade. Tomaten wären weg wie auch die Haselnusscreme. Außerdem säßen Sie auch nicht im Baumwollhemd, sondern in Kleidung aus Synthetikfasern am Tisch.

Insekten sind enorm wichtig für die Bestäubung von Pflanzen, auch als Futter für andere Tiere und zum Erhalt des ökologischen Gleichgewichts. Aber mal ehrlich, wie zuverlässig sind die Zahlen, wie viele es gibt?

Nashörner, Elefanten, die anderen großen Tiere – im Vergleich dazu wissen wir über Insekten bisher wenig. Das stimmt.

Das Ziel Noch bis Ende der Woche sitzen in Paris mehr als 150 Autorinnen und Autoren zusammen, um einen umfassenden Bericht zum Zustand der globalen Natur abzustimmen. Der UN-Biodiversitätsrat (IPBES) soll eine Inventur machen, die größten Probleme klären und Maßnahmen anregen, um die Ökosysteme des Planeten zu erhalten.

Was getan wurde Nach dem Vorbild des UN-Klimarats IPCC haben die ForscherInnen in den vergangenen drei Jahren aus mehreren hunderttausend wissenschaftlichen und politischen Veröffentlichungen die entscheidenden 15.000 ausgewählt und diese dann ausgewertet. Der Endbericht wird nun mit Vertretern von 132 Staaten abgestimmt und am 6. Mai veröffentlicht.

Was schon klar ist IPBES-Chef Robert Watson hat vor einem „schnellen und historischen“ Verlust der Artenvielfalt auf der Erde gewarnt. Das rasche Verschwinden von Pflanzen und Tieren sei ebenso schwerwiegend wie der Klimawandel. Der Bericht solle den Regierungen als Grundlage für schnelles Handeln dienen.

Aber?

Wir schätzen, dass es 8 bis 10 Millionen Pflanzen- und Tierarten – da sind die Mikroorganismen nicht dabei – auf der Erde gibt. Davon sind 5 bis 6 Millionen Insekten. Und wir haben Rückgänge bei allen Artengruppen, nicht nur bei Säugetieren und Vögeln, sondern auch bei den Sechsbeinern. Das ist sicher. Und vor allem in Europa, Nordamerika, zum Teil auch in Japan schon gut erforscht. In Deutschland stehen zum Beispiel etwa 40 Prozent der 550 Wildbienenarten auf der Roten Liste bedrohter Tier- und Pflanzenarten, bei Schmetterlingen ist es sogar die Hälfte aller Arten.

Allein in Deutschland leben 33.000 Insektenarten, viele davon sind winzig klein. Wie oft irren sich Insektenforscher?

Tagfalter kenne ich wirklich gut. Da mache ich bei 1.000 Bestimmungen vielleicht mal ein bis zwei Fehler. Das kann jeder erreichen.

Sie haben schon als sechsjähriger Junge angefangen, Insekten zu sammeln.

Ja, ich fand die immer faszinierend. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, da war in den Schulferien sonst nicht so viel los. Aber schon nach drei bis vier Jahren kann man super Experte sein, wenn man sich da reinhängt. Schmetterlinge – in Deutschland gibt es über 3.500 Arten – sind einigermaßen groß, da lassen sich 90 Prozent schon mit einem guten Buch bestimmen. Das wird umso schwieriger, je kleiner die Insekten sind und je versteckter sie leben. Die ganz kleinen Schlupfwespen zum Beispiel, die auf Eiern von anderen Insekten leben – da wird es schwierig, weil diese oft nur ein bis zwei Millimeter groß sind. Da muss ich der Experte sein. Da gibt es nur ganz wenige.

Es heißt, ein guter Insektenforscher erkennt 1.000 bis 2.000 Arten. Wie erfolgt eine solche Zählung?

Diejenigen, die ernsthaft Tagfalter zählen, laufen alle zwei Wochen bestimmte Wege ab und schreiben für alle 50-Meter-Abschnitte auf, was sie sehen. Daran beteiligen sich mittlerweile Forscher, zumeist ehrenamtliche, in 16 Ländern der EU. Geht es um die kleineren Insekten, gehen die Forscher mit dem Kescher raus. Die Tiere, die ihnen dann ins Netz gehen, werden im Labor etwa mit Alkohol konserviert und im Mikroskop untersucht. Das ist die klassische alte Bestimmungsmethode.

Welche neuen technischen Möglichkeiten gibt es?

Ein DNA-Barcode, ähnlich einem Strichcode für Waren – das steht noch am Anfang, bringt aber ganz gute Er­gebnisse. Da wird das Erbgut, die DNA, beispielsweise eines Käfers, zunächst extrahiert und dann mit einer Datenbank abgeglichen. Das ist computergesteuert und soll nur wenige Minuten dauern. Womöglich lässt sich auch ein Netz aufbauen, wo Insekten automatisch gefangen und dann bestimmt werden. Der Forschungsbedarf ist immer noch groß, allerdings ist genug Wissen da, um etwas gegen den Schwund zu tun.

Gab es auch schon früher, heißt es immer wieder, um nichts tun zu müssen. Was entgegnen Sie, wenn jemand sagt: Ja, aber die Dinosaurier sind auch ausgestorben?

Foto: UFZ

Josef Settele, 58, ist Insektenforscher und arbeitet am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle – wenn er nicht gerade auf der Suche nach den Sechsbeinern durch die Wiesen läuft. Er koordiniert als Co-Vorsitzender eine Bestandsaufnahme, wie es den Tieren und Pflanzen weltweit geht, genauer; den globalen Bericht zum Zustand der Natur des Weltbiodiversitätsrats.

Das ist alles richtig, die Erde hat schon viele Aufs und Abs erlebt. Es ist okay, dass Arten kommen und gehen, dass sie sich entwickeln und anpassen. Doch bis die Dinosaurier ausgestorben sind, hat es Zehntausende Jahre gedauert. Die Verluste, die es jetzt gibt, ereignen sich in viel kürzeren Zeiträumen, wir sprechen von Jahrzehnten.

Was sind die entscheidenden Ursachen, bei denen Sie ansetzen würden?

Bei der intensiven Nutzung des Landes, auf dem Acker, im Forst, auch in öffentlichen Parks oder im Vorgarten. Nicht zuletzt der Einsatz von Pestiziden macht den Arten zu schaffen. Insektizide töten – das sollte niemanden überraschen – Insekten. Sie wurden dafür gemacht. Auch mit den großen Flächen, auf denen zum Beispiel nur noch Mais für die Produktion von Bioethanol für die klimafreundliche Zugabe in Kraftstoffen wächst, können Insekten, Vögel, Feldhasen wenig anfangen.

Was fordern Sie?

Wer Klimaschutz und biologische Vielfalt zusammen denkt – das wird auch ein wichtiger Punkt in unserem globalen Bericht sein –, sollte sich auf eine Energiegewinnung konzentrieren, die nicht auf Kosten von anderen Nutzpflanzen, Brachen oder Weideland geht. Das sind eher Windkraft- oder Solaranlagen, die weniger Fläche brauchen.

Ihr Tipp, was jeder tun kann?

Der englische Rasen ist nicht das Beste für die biologische Vielfalt, im Gegenteil: Er ist eine Art Wüste. Aber natürlich brauchen Kinder Platz zum Spielen. Darum habe ich in meinem Garten eine kleine Rasenfläche, früher war da auch ein Sandkasten, aber auch eine Wiese, die ich ein- oder zweimal im Jahr mit der Sense mähe. Dazu gibt es eine Art Hügel, der locker bepflanzt ist, damit im offenen Boden Wildbienen brüten können.