piwik no script img

berliner szenenPinkeln privatisiert? Ach Berlin!

Nach einem Abend Theater im Ballhaus Ost, Das Helmi mit seinen tollen Schaumstoffmasken, spazieren R. und ich von der Pappelallee in den Wedding. Es ist Freitagnacht, die Luft ist kalt und riecht nach gar nichts. Eigentlich wollen wir es uns vor den Späti in der Pappelallee gemütlich machen, doch eine Schulklasse ist uns zuvorgekommen, ohne Lehrer, dafür mit Alcopops. Wir spazieren Richtung Stargarder. Alles so sauber, der Gehsteig ein leerer Abendbrottisch. Rüber in die Gleim, auch hier finden wir vor dem Späti keine Gnade, die Bänke sind weggeräumt wegen eines Nachbarn von oben.

Wir passieren die Ecke Sonnenburger, vor meinem inneren Auge eine Brache mit vergammelter Matratze, in der Wirklichkeit protzt ein Neubau mit seinen bodentiefen Fenstern. Da wohnt der Sohn von Beckenbauer, meint R., oder so, jedenfalls ein Sohn, und ich weine in meinen Apfelsaft. Wir müssen dringend urinieren, gleich sind wir am Humboldthain. Dass Wall-Klo am Parkeingang ist umzäunt. Mit im Zaun: ein Auto. Ich hocke mich hinter Zaun, Auto und einen Baum, der Boden ist dankbar. R. verschwindet seinerseits im Dunkel, da öffnet sich die Autotür. Ein Securitymensch dreht eine Runde hinter den Gitterstäben. Ach Berlin, warum hast du bloß das Pinkeln privatisiert, denke ich melancholisch.

Im Wedding dann finden wir einen Späti mit feudalen Plastiksesseln und grünem Teppich auf dem Gehweg, sitzen da bis zwei und trinken Tee. Der kostet so viel wie einmal Wall. Ein paar Tage drauf fahre ich morgens wieder durch den Park. Vor dem Wall-Häuschen ein mobiler Kaffeestand, Männer in schlechten Anzügen. Feierliche Klo-Eröffnung, erklärt der Barista. So viel weiß ich jetzt: Die Stadt verändert sich, und wir werden alt, doch so lange ich lebe, werde ich Berlin mit meiner Pisse düngen. Kirsten Reinhardt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen