Désirée Fischbach sichtet die sozialen Bewegungen der Stadt:
Die Revolutionären 1. Mai-Demonstrationen in der 1980er und 1990er Jahren sind aus heutiger Sicht ob ihrer Radikalität und Entschlossenheit legendär. Wie es war, wird es wohl nie mehr sein. In den letzten 30 Jahren hat sich die Stadt in Punkto Protestkultur sehr verändert. Auch die polizeilichen Strategien haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. In vielerlei Hinsicht sind die Aktionen am und um den 1. Mai herum mehr und mehr ritualisiert worden, entpolitisiert und zum Party Trend verkommen. Die Sinnhaftigkeit wird zu Recht schon länger kontrovers diskutiert und in Frage gestellt. Und dennoch ist nichts tun, Nostalgie und Resignation, die schlechteste aller Lösungen.
Denn lauten Protest braucht es in diesem Jahr genauso wie vor 30 Jahren. Und Gelegenheiten dazu, diesen gemeinsam deutlich kundzutun rund um den Tag der Arbeit, gibt es 2019 in Berlin immer noch. Zwei Demos sind in diesem Kontext besonders hervorzuheben. Der selbst organisierte, auch sonst sehr aktive und progressive Zusammenschluss von unterschiedlichsten Menschen, „Hände weg vom Wedding“ ruft am 30. 4 zur Demo „Unsere Häuser, unsere Kieze. Gegen die Stadt der Reichen!“ auf. Pressesprecher Antonio Panda betont die immer lauernde Gefahr einer Ritualisierung der jährlichen Demo und das daraus folgend klar fokussierte Bestreben einer Repolitisierung der Demo, die 2012 von Friedrichshain nach Wedding verlegt wurde. Anliegen und Themen des Demozuges seien dieses Jahr unter anderem Rassismus und Gentrifizierung. Gleichzeitig verweist er darauf, dass das Bestreben von „Hände weg vom Wedding“ am Dienstag und im Allgemeinen selbstbestimmte Kiezgestaltung, Vernetzung und eine langfristige Organisierung in der Nachbarschaft sind (30. 4., Leopoldplatz, 17 Uhr).
Und am 1. Mai geht es direkt weiter. Ganz anders als gewohnt. Die Revolutionäre 1. Mai-Demonstration will sich bewusst neu erfinden und soll, so die Radikale Linke Berlin, an den Wismarplatz in Friedrichshain umziehen. Weg von der über die Jahre immer mehr expandierten Festivalstimmung in Kreuzberg. Es geht darum am neuen Ort die Basis zu mobilisieren, die gemeinsam, klar und bestimmt, unter anderem gegen unverhältnismäßige polizeiliche Maßnahmen sowie die Verdrängung von Freiräumen auf die Straße geht. Wer dazu beitragen will, dass die Demo ihre Berechtigung und ihr Attribut revolutionär am 1. Mai in Berlin zurückbekommt, schaut nicht zurück in eine längst vergangene Zeit, sondern beteiligt sich aktiv mit an diesem Prozess und gestaltet das hier und jetzt mit (1. 5., Wismarplatz, 18 Uhr).
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