Der Regen kommt zu spät

Die steigenden Preise haben die Erlöse aus der letzen Ernte gänzlich aufgefressen

AUS DAOURAWA HAKEEM JIMO

„Mir geht das alles zu langsam“, sagt der Amerikaner: „Den Menschen muss viel schneller geholfen werden.“ Ganz Unrecht hat Terry nicht. Jeweils nur ein Mann darf aufstehen, zum Viererkomitee hinübergehen, in dreifacher Ausführung einen Daumenabdruck auf die Empfangspapiere pressen, 20 Scheffel Hirse abzählen und in seinen Sack kippen. Erst dann ist eine Person abgefertigt. Rund dreißig weitere Familienoberhäupter warten auf dieselbe Prozedur.

Terry kommt aus Florida. Als die Bilder hungernder Kinder im Niger über die US-Fernsehschirme flimmerten, setzte er sich mit Ehefrau und Sohn in ein Flugzeug. Mit dem Hilfswerk „Care“, bekannt aus Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, will Terry direkt helfen. Während die Care-Leute Hirse austeilen, erzählt Terry seine Geschichte. 1976 flog der US-Amerikaner als ziviler Pilot für die saudi-arabische Luftwaffe. Oft brachte ihn das auch nach Niger. Als er in jenem Jahr einmal einen Spaziergang machte, blieben ihm die vielen ausgezehrten Gesichter nicht verborgen. Auf einmal bettelte ihn eine Frau mit einem unterernährten Kind auf dem Arm an. Der Junge hielt einen Fladen in der Hand, wohl aus Pferdemist. Der Junge schaute Terry an und streckte dann die abgemagerte Hand mit dem letztem Essbaren in Richtung Terry. Er wollte es mit dem Fremden teilen.

An diesem Tag begleitet der Anfang 50-Jährige eine Care-Lebensmittelausgabe im Dorf Daourawa, etwa eine Autostunde von der Regionalhauptstadt Maradi entfernt. Diese Region unweit der Grenze zu Nigeria gilt eigentlich als die Kornkammer Nigers. Ein Viertel der Getreideernte des Landes fahren die Ackerbauern hier ein. Aber auch hier hat der Hunger Einzug gehalten – Folge der Heuschreckenplage vom Sommer 2004, die über Niger kam, während zugleich die Regenzeit zu früh zu Ende ging.

Wenn der Regen wiederkommt, wie jetzt, verwandelt sich die Landschaft von einem toten, staubtrockenen Ockergelb hin zu einem überall aus dem Boden sprießenden, satten Hell- und Dunkelgrün. Pfützen stehen auf den Feldern, ganze Seen haben sich in Senken gebildet. Aber genug zu essen gibt es nicht. Die nächste Ernte gibt es erst in ein paar Monaten.

Jetzt ist auch für das Vieh wieder eine gute Zeit. Doch für den Fulani-Nomaden Ayia Djore und seine Herde kommt das zu spät. Von seinen 160 Rindern blieb ihm ein einziges. Von den 100 Ziegen seien alle verhungert und auch nur wenige Esel hätten es geschafft, sagt der 40-Jährige, der trotz seiner Verzweiflung einen gefassten Eindruck macht.

Auf der Weidelandschaft steht eine bizarre Skulptur: Hörner, strahlend weiß, und große Brustknochengewölbe stecken ineinander. Ayia Djore und seine Leidensgenossen haben ein Dutzend tote Rinder auf einen Haufen geschmissen. Sonne und Regen haben das Fleisch vom Skelett gelöst. Insgesamt hat die Gemeinschaft dieses Fulani-Hirtenlagers fast 500 Tiere verloren. Fünf Rinder bleiben den 40 Familienoberhäuptern mit ihren über 200 Kindern und Frauen.

Die UN-Agrarorganisation FAO schätzt, dass etwa 10.000 Hirtenfamilien in Niger ihre Herden verloren haben. Ein nigrischer Fachjournalist des Agrar- und Entwicklungsmagazins Les Echos du Sahel nennt gar einen Verlust von 80 Prozent des Viehbestandes. Fast 5 Millionen Tonnen Futter für die Tiere fehlen dieses Jahr aufgrund der Heuschreckenplage von 2004 – mehr als 20-mal so viel wie der Ernteausfall für die Menschen.

Aber Ayia Djore und seine Familie essen seit Monaten, was eigentlich für die Tiere gedacht ist. In einer Schüssel häufen sich zermahlene Hirseschalen. „Noch nie war es so schlimm wie dieses Jahr“, sagt der Hirte. Seine Frau Hawa sagt, ihr Dreijähriges sei vor ein paar Wochen verhungert.

1,5 der 12 Millionen Einwohner Nigers sind Nomaden, hauptsächlich aus den Völkern der Tuareg und der Fulani. Viele stehen nun vor dem Nichts. Entweder ist der Großteil ihrer Herde bereits verendet. Oder aber die abgemagerten überlebenden Tiere erzielen nur einen Bruchteil des sonstigen Erlöses auf den Marktplätzen. Normalerweise bekommt ein Hirte rund 150 US-Dollar für ein aufgezogenes Rind. Zurzeit bekommt er keine 10. Dagegen haben sich die Preise für Hirse vervielfacht.

Die Hungerkrise im Niger hat neben der Invasion der Heuschrecken und der schlechten Regenzeit im vergangenen Jahr auch wirtschaftliche Ursachen. Es gibt durchaus Lebensmittel zu kaufen – aber zu horrenden Preisen. Einige Hilfswerke kaufen jetzt den Hirten Vieh zum Vorzugspreis ab, damit sie sich zu essen kaufen können. Seit Anfang vergangener Woche werden in Niger auch kostenlose Nahrungsmittel verteilt – auch an die Menschen, die sich nicht schon im akuten Stadium der Unterernährung befinden.

Nigers Regierung schätzte bereits Ende 2004, dass der Bevölkerung des Landes für 2005 über 200.000 Tonnen Getreide fehlen. Erst vor einem Monat lief internationale Hilfe in größerem Ausmaß an. Das UN-Welternährungsprogramm WFP hat bis jetzt rund 50.000 Tonnen auf den Weg gebracht, hauptsächlich per Schiff. Über 100 Lastwagen fahren zwischen den Hafenstädten der südlichen Nachbarländer und Niger hin und her. Doch 12 Millionen Einwohner in einem Land von der dreifachen Fläche Deutschlands mit wenig Infrastruktur sind schwer zu erreichen. „Wir müssen so schnell wie möglich jetzt aus den Lagerhäusern heraus und in die Dörfer“, sagt Marcus Prior vom WFP, der auch die Verteilung von Care an diesem Tag begleitet. Das WFP kümmert sich um die große Logistik; die Verteilung übernehmen Hilfswerke wie Care.

Der Amerikaner Terry ist frustriert. Er würde gerne von einem dieser Hilfswerke in einem Zwischenlager Hirse kaufen statt in Maradi. Das würde Zeit sparen und Hilfe schneller in abgelegene Dörfer bringen. Aber es passt nicht in den Plan.

Mit dem Regen blüht das Land auf.Genug zu essen gibt es dennoch nicht

Die Verteilung in Daourawa geht weiter. Zwei Frauen und zwei Männer bilden das für die Ausgabe zuständige Vierer-Komitee. Eine der beiden Frauen heißt Amina Owata. Ihre Familie baut vor allem Hirse, Bohnen und Sorghum an. Sie sagt, dass die Vorräte seit Monaten aufgebraucht seien und sie aus Verzweiflung jetzt schon das Saatgut für die nächste Ernte essen. Ihre fünf Kinder leben zwar alle noch, seien aber stark abgemagert. Von dem Erlös der letzten Ernte ist nichts mehr übrig, weil die Preise so stark angestiegen seien. Sie hatten in der Erntezeit noch den Sack Hirse für 10.000 CFA (15 Euro) verkauft. Jetzt müssen sie die Hirse zum dreifachen Preis zurückkaufen.

Viele Bauern haben Schulden bei Händlern, weshalb sie überhaupt erst in der Erntezeit zu einem schlechten Kurs verkaufen müssen. Die Spekulation mit Hirse gilt als weitere Ursache der Lebensmittelknappheit: Geschäftsleute, nicht selten aus der Politik, kaufen während der Ernte billig ein, um dann mit künstlicher Verknappung Monate später teuer zu verkaufen – auch in Nachbarländern.

Es herrscht in Niger eine eigenartige Debatte unter Journalisten, Entwicklungshelfern, Regierung und internationaler Gemeinschaft: Ist Hunger in Niger nicht normal; ist die aktuelle Krise überhaupt außergewöhnlich? Es stirbt doch sowieso in Niger jedes vierte Kind vor dem 5. Geburtstag, heißt es dann manchmal. Folglich seien die Alarmrufe der Hilfswerke überzogen. Nigers Präsident Mamadou Tandja sprach gar von falscher Propaganda. Nach wie vor weigert er sich, die Situation als Hungersnot anzuerkennen – allenfalls als Versorgungsengpass.

Gefährdet ist auf jeden Fall die Art und Weise, wie Nigers Gesellschaft funktioniert. Wer seinen Lebensunterhalt verliert, verliert Eigenständigkeit. Hawa, die Frau des Hirten Ayia Djore, muss jetzt im Dorf Azargwa Arbeit suchen, um wenigstens an ein paar Scheffel Hirse zu kommen. Der Totalverlust des Viehs bedroht die alte Nomadenkultur. Aber auch die Ackerbauern brauchen eine neue Agrarpolitik, um der Abhängigkeit von Spekulanten zu entrinnen und archaische, unproduktive Anbaumethoden zu erneuern. Sonst wird es immer öfter Hungerkrisen in Niger geben, dem Land mit dem schnellsten Bevölkerungswachstum der Welt.

Das Zauberwort dafür, sagen alle, heißt Bildung. Schon jetzt tut sich etwas in Nigers Schulen: Einige Kinder haben angefangen, die Abkürzungen der Hilfsorganisationen zu lernen.