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Wucherungen des nahen Todes

Spuren des Elends und des Zufalls, antiherorische Entgegnungen auf das Selbstbild der Sowjetunion und erotisierter Alltag: die Ausstellung „Before Sleep/After Drinking“ von Altmeister Boris Mikhailov bei C/O Berlin

Boris ­Mikhailov, Ohne Titel, aus der Serie „Case History“, 1997/ 98 Foto: Boris Mikhailov,VG Bild-Kunst, Bonn

Von Brigitte Werneburg

Die schlicht gerahmten Fotos im vorderen Ausstellungsraum bei C/O Berlin hängen so dicht an dicht, dass es wohl alle 413 Aufnahmen sein müssen, die Boris Mikhailov für „Case History“ fotografiert hat. 1997/98 war er nach Jahren der Abwesenheit wieder in seiner Heimatstadt Charkiw und sah dort ein noch viel größeres Elend, als er es erinnerte. Bot der Sozialismus den Sowjetbürgern Arbeit und Wodka, blieb nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nur der Wodka. Nicht nur die Arbeit, auch die Werkswohnungen gingen verloren, dafür wuchs die Zahl der Obdachlosen.

Diese aus der Gesellschaft herausgefallenen Menschen interessierten den Fotografen Boris Mikhailov. Mitleidslos, mit strikten Verhaltensregeln und gutem Geld gewappnet, machte ­Mikhailov sie zu Protagonist*innen seiner Serie, wobei das Geld dafür sorgte, dass sie sich für ihn auch auszogen. Das hatte einen voyeuristisch-ästhetischen, aber auch einen wichtigen dokumentarischen Grund, denn nur nackt zeigten die Menschen die Narben, die ihnen das Leben geschlagen hatte, und die Wunden, die unbehandelt nicht heilten und die Wucherungen, die vom nahen Tod sprachen.

Deutlicher als in dem Buch, das vor zwanzig Jahren bei Scalo erschien, ist jetzt an der Wand von C/O Berlin zu erkennen, wie oft Mikhailov bei der Inszenierung seiner Protagonist*innen auf christliche Ikonografie zurückgriff. Da meint man die Jungfrau, umstanden von den Jüngern, zu sehen, man beobachtet eine Kreuzabnahme oder sieht eine Pieta. Glücklicherweise sind Mikhailovs Heiligenbilder durch seine radikal voyeuristische Sichtweise, die jede Zurückhaltung vermissen lässt, kontaminiert.

Humanistischer Kitsch war das also nicht. Dafür ein Welterfolg. Denn das war neu, wie Mikhailovs Fotografien von der Materialität des Sozialen handelten, dem Schnaps, der Haut, dem Alter und den Schulden. Felix Hoffmann, der Kurator der Ausstellung, betont diesen ­Aspekt und stellt gleich im Übergang zum nächsten Raum zwei Vitrinen, die „Virchows Wirkliche Bilder“ enthalten. Die Feuchtpräparate erkrankter Organe aus der Sammlung des berühmten Berliner Pathologen Rudolf Virchow sind Leihgaben der Charité.

Aber nicht nur seine Pro­ta­go­nist*innen posieren für Mi­khai­lov, er selbst tut es ebenfalls. Die Serie „I Am Not I“, 1992 entstanden, zeigt ihn nackt, wie er, bewaffnet mit einem eindrucksvollen Dildo, Posen einnimmt, wie man sie von den Männerakten des 19. Jahrhunderts kennt, angefangen beim Gestus des Diskus werfenden, griechischen Athleten bis zu dem des „Denkers“ von Rodin. Mikhailov beschreibt seine in theatralisch ausgeleuchteten Schwarz-Weiß-Aufnahmen festgehaltene Performance als antiheroische Entgegnung auf das muskulöse Selbstbild der nun untergegangenen Sowjetunion.

Eine solche Entgegnung waren die Bilder des 1938 in Charkiw geborenen Künstlers schon immer. Als der Elektroinge­nieur zu Beginn der 1960er Jahre autodidaktisch zu fotografieren und zu filmen begann, stieß er schnell an die Grenzen jenes politisch codierten Medienkonstrukts mit vorgefertigter Ästhetik und Symbolik, das sich realer Sozialismus nannte. Gegen diese von oben angeordnete und kontrollierte Inszenierung des Alltags, die gegen den Einzelnen absolut rücksichtslos verfuhr, inszenierte Boris Mi­khai­lov mit Freunden und Partnerinnen einen erotisierten Alltag von unten, der wie bei „Suzi et ceterea“ auch clowneske Züge hatte und damit ganz klar die Abweichung, die Privatheit und die Individualität beschwor.

Auf diese intimen Szenen folgen Mikhailovs neueste Fotoserien: „Diary“, eine 2015 fertiggestellte Kompositon aus alten Aufnahmen, die von den offiziellen Serien, weil Experimente, ausgeschlossen blieben. In der großen Ausstellungshalle ziehen sich die mittelgroßen Prints nun auf Augenhöhe die Wände entlang und bilden eine Anthologie des Mikhailov’schen Werks, die gleichermaßen als eine Biografie des Künstlers gelesen werden kann.

Ein wenig ist hier eine Retro­spektive angedeutet, die die Ausstellung bei C/O Berlin leider nicht ist, auch nicht sein kann, will man bei jeder gezeigten Serie so ins Detail gehen wie jetzt etwa bei „Case History“. Dazu ist Mikhailovs Werk zu umfangreich. Es gilt also, auszuwählen. Und so setzt nun „Temptation of Death“, die neueste, von 2017 bis 2019 entstandene Serie, den Schlussakkord. Die Projektion von 150 Diptychen aus alten und neuen im Krematorium von Kiew entstandenen Aufnahmen handelt vom Zufall als Bildproduzent, vom Gegensatz zwischen Alt und Neu, zwischen spiritueller Erleuchtung und alltäglicher Dummheit, vom Antagonismus von Kommunismus und Kapitalismus, von Leben und Tod. Ein Kompositum neuer Assozia­tionen und resümierender Rückblicke, wie es Altmeister eben wirklich können.

Bis 1. Juni, C/O Berlin, ­Hardenbergstr. 22–24, täglich 11–20 Uhr, April 2019

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