Getippte Meinungsfreiheit

In ihrer Kunstaktion „I wish to say...“ lässt die US-Amerikanerin Sheryl Oring Briefe an Bundeskanzler Schröder oder Herausforderin Angela Merkel schreiben – und zum Weltjugendtag auch an den Papst

AUS KÖLN ISABEL FANNRICH

In der bunten und lauten Menschenmenge des Weltjugendtags fällt der kleine 50er-Jahre-Tisch mit der alten schwarzen Optima-Schreibmaschine kaum ins Auge. Wenige Meter vor den Absperrgittern der Papst-Strecke sitzt eine rothaarige, streng gekämmte Frau in mittelblauem engem Kostüm und hellblauen Schnallenschuhen. Mit unbewegtem Gesicht tippt sie auf kleine Zettel, was auch immer Passanten ihr diktieren: „Offene Beichte – Briefe an den Papst“ – das ist Sheryl Orings Dienstleistung als Sekretärin für die Besucher des katholischen Großereignisses. „Kostet das Geld?“, fragt ein Mädchen, bevor es sich auf dem dreibeinigen Hocker im Design der Nachkriegszeit niederlässt. Ein sachliches „Nein“ kommt als Antwort.

„Machen Sie wissenschaftliche Forschung?“, fragt eine ältere Frau. Und eine jüngere, die den Brief an den Papst bereits unterschrieben und ihm „gute Gesundheit“ gewünscht hat, will plötzlich wissen: „Unsinn wird damit ja nicht gemacht?“ Mit einem freundlichen Kopfnicken oder -schütteln antwortet Sheryl Oring. Lange Erklärungen über ihre Kunstperformance gibt die 39-jährige US-Amerikanerin nicht – es sei denn, jemand fragt. „Die Leute hier wollen über den Papst reden. Sie sind sehr dankbar, dass ich ihnen zuhöre.“

„Wie redet man einen Papst an?“, überlegt ein Mädchen mit Zahnspange. „Lieber Vater“, diktiert resolut ein junger Pole in Militärhose auf Englisch, „ich bin sehr überrascht, dass Sie nach dem Papst aus Polen der nächste Papst sind, und dass ich Sie hier in Köln treffe.“ Ernst forscht er nach einer weiteren Eingebung: „Ich hoffe, Sie führen die von Johannes Paul II. eingeschlagene Richtung fort und wünsche mir, dass Sie Polen besuchen. Bis bald.“ Er unterschreibt Original und Durchschlag mit Peter, Warschau. Einen zusätzlichen Stempel mit „Dringend“, „Vertraulich“ oder „Info“ will er nicht.

Am Vortag hatte die in New York lebende Künstlerin ihren Tisch in der Nähe des Doms aufgebaut und in eineinhalb Stunden zehn Briefe gesammelt. Heute sind es bereits 17. In den nächsten Tagen will die studierte Journalistin sich wieder dem eigentlichen Zweck ihrer Deutschlandtour durch Berlin, Hamburg, Köln, München und Leipzig widmen: Passanten in Fußgängerzonen, auf Marktplätzen oder in Parks können ihr Briefe an Kanzler Gerhard Schröder diktieren – oder nach Wunsch auch an Angela Merkel. Sheryl Oring schickt die Originale an den Adressaten, die Kopien archiviert sie für eine spätere Veröffentlichung. „Lieber Gerhard“, heißt es in einem Schreiben vom 13. August, „ich finde es toll, dass Sie das Handtuch geworfen haben; so viel Menschlichkeit ist in der heutigen Politik selten anzutreffen.“

Bereits 2004 war die Künstlerin durch die USA gereist und hatte mit der Performance-Installation „I wish to say...“ Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft Briefe an US-Präsident George W. Bush schreiben lassen. Sie tippte im New Yorker Schwarzen-Stadtteil Harlem, hörte Menschen in Rasthöfen zu und fuhr in Indianer-Reservate.

Dass es in Sheryl Orings Kunstaktionen immer um Kommunikation geht, ist Folge ihrer zehnjährigen journalistischen Arbeit. Während eines Stipendiums 1999 in Berlin sperrte sie in „Writer‘s Block“ mehr als 600 Schreibmaschinen aus den 20er und 30er Jahren in rostige Eisenkäfige und stellte sie auf den Bebelplatz, wo 1933 die Nazis Bücher verbrannt hatten. „In ‚I wish to say...‘ stehen die Schreibmaschinen nicht mehr für Zensur, sondern für Meinungsfreiheit“, so die Künstlerin. Auslöser für die Idee war der 11. September 2001. „Im Ausland herrschte das Bild vor: Alle Amis denken gleich“, erzählt Oring. „Ich wollte die in den USA existierende Meinungsvielfalt einfangen. Und den Leuten die Chance geben zu artikulieren, was nicht in den Medien auftaucht.“