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Lohnende Entdeckungsreise

Die zweite Ausgabe von Film:Schweiz stellt ein Filmland vor, das, obwohl auf Festivals konstant präsent, im Kinoalltag wenig Wahrnehmung findet

Veronika Minder erzählt in „Katzenball“ (2005) eine Geschichte des Lesbischseins in der Schweiz der 100 Jahre Foto: Foto:Film:Schweiz

Von Fabian Tietke

Straßenszenen: ein leerer Briefumschlag wandert in einen Mülleimer, eine junge Frau auf einer Verkehrsinsel, ins Handy vertieft. Die junge Frau geht über leere Betonflächen durch die Stadt. Eine Chipkarte öffnet ihr eine Tür zum Arbeitsplatz, einem Call Center. Die junge Frau verkauft Handyverträge und Krankenversicherungen per Telefonanruf – im Hauptberuf, nebenher prellt sie ältere Damen um größere Beträge, indem sie sich als deren Enkelin ausgibt. „Dene wos guet geit“ („Die, denen es gut geht“) von Cyril Schäublin ist ein konzentrierter Film, der mit wenigen Elementen arbeitet, die er nach und nach ineinander verschränkt. Ein Film über Begehrlichkeiten in einer Konsumgesellschaft. „Dene wos guet geit“ ist Teil eines kleinen Festivals des Schweizer Films, das die Kuratorin Teresa Vena zum unterdessen zweiten Mal auf die Beine gestellt hat.

Film:Schweiz stellt ein Filmland vor, das, obwohl auf Festivals konstant präsent, im Kinoalltag wenig Wahrnehmung findet. Und präsentiert eine Auswahl aktueller Produktionen, ergänzt um ein Programm mit Experimentalfilmen und zwei älteren Arbeiten. Eine dieser beiden Perlen Schweizer Filmgeschichte eröffnet am Donnerstag das Festival: „L'invitation“ (Die Einladung) des kürzlich verstorbenen Claude Goretta. Eine Handvoll Menschen in einem Büro, im Nebenzimmer der Vorgesetzte, jeder Angestellte hat einen Schreibtisch, vor sich eine Schreibmaschine, die einzige Kommunikation geschieht durch eine Frau, die Aktendeckel austeilt. Die Arbeitstage sind geregelt. Ein Telefongespräch während der Arbeitszeit wird da beinahe zum Akt einer unbewussten Rebellion, das mit einem eskalierenden Geklapper der Schreibmaschinen kommentiert wird. Als einer der Angestellten ein Haus im Grünen erbt, lädt er seine Kolleginnen und Kollegen zu sich ein – ein weiterer unerhörter Akt. Teils freudig, teils zögernd folgt das Büro der Einladung, die zu einem Sommernachmittag zwischen Gehemmtheit und Befreiung führt. Goretta ist einer der Protagonisten des Neuen Schweizer Films der 1970er Jahre, sein Film gewann 1973 den Jurypreis in Cannes.

Veronika Minder zeichnet in „Katzenball“ von 2005 eine Geschichte des Lesbischseins in der Schweiz über die letzten 100 Jahre nach. Von der ersten Frauenbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts, den Aufbruch der 1920er Jahre, die reaktionären Rückschläge der 1930er Jahre und den Familienfimmel der Schweizer Nachkriegsgesellschaft über die Kämpfe der 1970er und 1980er Jahre schlägt der Film einen Bogen bis in die Gegenwart. Minder porträtiert in Interviews mit Frauen unterschiedlicher Generationen, vor allem aber in einer beeindruckenden Menge von Filmmaterial den Kampf darum, dass Lesbischsein auch in der Schweiz ein alltäglicher Bestandteil der Gesellschaft ist. „Katzenball“ ist ein solidarisches, lustvolles Kollektivporträt.

Ein Programm mit Experimentalfilmen, die zwischen 1972 und heute entstanden, unterstreicht die fruchtbare Wechselwirkung zwischen Filmgeschichte und gegenwärtiger Filmproduktion, die das Programm von Film:Schweiz durchzieht. Reinhard Manz Auseinandersetzungen mit dem städtischen Raum finden sich gleich zweimal: einmal spricht er mit Passanten an einem Verkehrsknotenpunkt, einmal deckt er in einer Einkaufsstraße alle Werbeschilder ab. Dieter Meier dreht seit den 1970er experimentelle Musikvideos, Ruth Baettig arbeitet mit Formen zwischen Performance, Film und Malerei. Abgerundet wird das Programm durch den aktuellen Film von Jean-Luc Godard, der – oft vergessen – ein Schweizer ist. „Le livre d’image“ (Bildbuch) ist ein eindrucksvoller, Strom von Assoziationen. In einer idealen Welt, hätte sich Godards filmischer Brief an den Schweizer Filmkritiker und ehemaligen Direktor des Schweizer Filmarchivs Freddy Buache als Vorfilm aufgedrängt, aber man kann nicht alles haben. In seiner zweiten Ausgabe fährt Film:Schweiz darin fort, die Schweiz als Filmland im Berliner Bewusstsein zu verankern. Die Fäden, die das Programm zusammenhalten, mögen bisweilen etwas arg lose geraten sein, doch die gezeigten Filme machen das allemal wett. Film:Schweiz bleibt auch im zweiten Jahr eine lohnende Entdeckungsreise.

Film:Schweiz: 4.–10. 4., Kino in der Brotfabrik

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