Kritik an der Bibel der globalen Energiepolitik

Regelmäßig sagt die Internationale Energieagentur eine lukrative Zukunft für Öl, Kohle und Gas voraus. Jetzt werfen ihr Industrie und Forschung vor, so den Klimaschutz zu bremsen

Von der IEA lange massiv unterschätzt: erneuerbare Energien, hier ein riesiges solarthermisches Kraftwerk in China Foto: Imagechina/laif

Von Bernhard Pötter

Ihr Wort gilt als Gesetz: Wenn die Internationale Energieagentur (IEA) in Paris ihre Berichte über die Zukunft der Energieversorgung veröffentlicht, nehmen viele Regierungen und Investoren diese Projektionen als bare Münze. Nun aber hat eine Gruppe von einflussreichen Industriellen, Wissenschaftlern, Umweltschützern und Fondsmanagern dem Gremium vorgeworfen, mit veralteten Daten zu arbeiten und damit die globalen Anstrengungen zum Klimaschutz zu bremsen. Sie werfen der IEA vor, mit ihrem Hauptszenario „einen gefährlichen Kurs in eine Welt mit 2,7 bis 3 Grad Erwärmung vorzuzeichnen“. Das steht in einem Schreiben, das am Mittwoch in Auszügen öffentlich wurde und der taz vorliegt.

Den Kritikern geht es vor allem um den wichtigsten Bericht der IEA, den „World Energy Outlook“ (WEO), der am Ende jedes Jahres veröffentlicht wird und als Bibel der Energiepolitik gilt. Darin beschreibt die IEA, die von den Industriestaaten in der Ölkrise 1974 gegründet wurde, um die Energiepolitik mit Fakten und Studien zu begleiten, in drei Szenarien, wie sich Angebot und Nachfrage nach Öl, Gas, Kohle, Atom und erneuerbaren Energien entwickeln. Dabei unterscheiden die Experten zwischen Entwicklungen mit „aktueller Politik“, „neuen Politiken“ und einem „Szenario der nachhaltigen Enwicklung“.

Die Kritik richtet sich gegen diese Rechnungen: Die Projektionen zur „Nachhaltigkeit“ etwa hätten als Ziel eine globale Erwärmung von 2 Grad, rechneten mit einer zeitweisen Überschreitung des 2-Grad-Ziels und mit höchst umstrittenen „negativen Emissionen“, die CO2 etwa unter der Erde speichern. Das Szenario zu „neuen Politiken“ sei „inzwischen nicht mehr neu, sondern repräsentiert klar unzureichende Höhe und Geschwindigkeit einer Transformation“.

Die Kritiker fordern, die IEA solle ihr Nachhaltigkeitsszenario überarbeiten und das Pariser Klimaabkommen zum zentralen Bezugspunkt des WEO machen: Mit einer Orientierung am 1,5-Grad-Ziel und einer Ausrichtung bis 2040 sowie mit einer Berücksichtigung der Tatsache, dass Erneuerbare sehr schnell billiger werden. Damit treffen sie bei der IEA einen wunden Punkt: Denn jahrelang haben die Experten den Zubau und die Erfolgsstory der Erneuerbaren massiv unterschätzt.

Die IEA reagierte mit dem Verweis, ihr Nachhaltigkeitsszenario sei voll auf das Pariser Abkommen abgestimmt. „Die IEA hat im Rahmen ihrer Strategie mit allen Energieformen und allen Technologien wiederholt dringendes Handeln gefordert, um CO2-Emissionen zu reduzieren“, hieß es auf dem offiziellen Twitter-Account. Erst letzte Woche hatte die Behörde gewarnt, zwar seien die Erneuerbaren schnell gewachsen, gleichzeitig legten aber auch der Verbrauch von Kohle und die CO2-Emissionen wieder zu.

Zu den Unterzeichnern der Forderungen an die IEA gehört auch Oliver Bäte, Vorstandsvorsitzender des Versicherungskonzerns Allianz. Auf taz-Anfrage erklärte das Unternehmen, die „Szenarien bilden eine wichtige Basis für die Planung von Klimazielen vieler internationaler Unternehmen und Regierungen“. Daher halte man „den Vorschlag für sinnvoll, dass zusätzlich zu den guten bestehenden Szenarien auch ein dauerhaftes 1,5-Grad-Szenario erstellt wird“. Die Allianz begrüße es, wenn sich eine solche Rechnung am 1,5-Grad-Bericht des UN-Klimarats IPCC orientiere. Der sage voraus, „dass die Kosten des Klimawandels bei 2 statt 1,5 Grad etwa zwei Mal so hoch sein könnten. Als Versicherer unterstützen wir daher die Klimaziele“, so die Allianz.