: Farbspuren auf schwarzem Grund
Im Hamburger Bahnhof läuft die erste Museumsausstellung des afroamerikanischen Künstlers Jack Whitten in Europa
Von Lorina Speder
Das Selbstporträt des Künstlers ist das zweitkleinste Bild unter den 30 ausgestellten Werken seiner Retrospektive „Jack Whitten: Jack’s Jack“ im Hamburger Bahnhof. Auf dunklem Untergrund türmen sich im Zentrum Farbreste zu einer heraustretenden, ovalen Form auf. Trotz der geringen Größe geht es neben den meterlangen Werken in der ersten Museumsausstellung des US-amerikanischen Malers in Europa keineswegs unter. Noch vor seinem Tod im letzten Jahr suchte Whitten zusammen mit Kurator Udo Kittelmann die Werke aus, die Kittelmann nun als Whittens „Sammlung seiner Lieblingsbilder“ bezeichnet. Das Selbstporträt im ersten Raum strahlt eine besondere Energie aus. Assoziationen zu psychedelischen Videos kommen auf, und man kann erkennen, dass Whitten ein Künstler ist, dessen Werk von seiner Spiritualität und theoretischen Auseinandersetzung mit der Malerei lebt.
Seit den 70er Jahren wollte Whittens die Grenzen der abstrakten Malerei durchbrechen. Weil das Acryl auf seinem Selbstporträt zentimeterdick aufgetragen ist, bekommt es eine plastische Dimension, die Malerei im engeren Sinn wird hier überschritten. Bevor Whitten jedoch anfing, sich in seinem Werk konzeptionell mit Malerei auseinanderzusetzen, war er vom abstrakten Expressionismus seines Mentors Willem de Kooning beeinflusst. Ein Relikt aus Whittens letzter Phase des abstrakten Malens ist das Gemälde „King’s Wish (Martin Luther’s Dream)“ aus dem Jahr 1968, in dem man über den leuchtenden Farbflächen Andeutungen von Gesichtern erkennen kann.
Whitten, der 1939 in der von ihm als „Hype der amerikanischen Apartheid“ beschriebenen Zeit in Alabama geboren wurde, hat die strikte Rassentrennung in den Südstaaten der USA selbst miterlebt. Martin Luther King begegnete er als Teenager während des von Rosa Parks ausgelösten Busboykotts in Montgomery. Das prägte ihn und sein künstlerisches Werk nachhaltig. Er selbst sagte über sich, dass er nie die Freiheit gehabt hätte, unpolitisch zu sein. Während seines Kunststudiums in Baton Rouge organisierte er 1960 für die finanzielle Unterstützung schwarzer Colleges einen Bürgerrechtsmarsch im Zentrum der Stadt. Nachdem er den Hass der gewaltbereiten Gegendemonstranten miterlebte, beschloss er, nach New York zu ziehen, wo er erstmalig mit weißen Professoren und KommilitonInnen studierte. Dort lernte er Allen Ginsberg und andere Figuren der New Yorker Kulturszene kennen.
Besonders beeindruckte Whitten ein Treffen mit Norman Lewis, der zu seinem Mentor wurde. Der Künstler zählte damals zu einem der wenigen bekannteren afroamerikanischen Maler. Die Verbindung zu ihm sorgte für den beschriebenen Wandel in Whittens Werk, in dem er sich mit seiner eigenen afroamerikanischen Identität in Bezug auf die Malerei auseinandersetzte. Die unsichtbare Grenze, die schwarzen Künstlern gegeben war, wenn sie nicht-figurativ, also ohne soziales Narrativ, arbeiteten, war etwas, das Lewis in seinem Werk beschäftigte und aufzubrechen versuchte. Whitten sah seine Verantwortung darin, den Diskurs seines Mentors in der abstrakten Malerei weiterzuführen. Er beschloss, „Gemälde nicht mehr zu malen, sondern zu machen“.
So kommt es, dass Whittens Kunst der letzten vier Dekaden weniger mit Pinselstrichen auf der Leinwand zu tun hat als vielmehr mit Farbe, deren Schichtung und Anordnung auf dem Untergrund. Die meisten Werke im Hamburger Bahnhof bestehen aus Farbplättchen, die mosaikartig angeordnet ein Gemälde ergeben. So auch das „Norman Lewis Triptychon l“, dessen abstrakte Muster aus vielen rechteckigen und farbigen Plättchen entstehen. Aus geordneten, blauen und schwarzen Farbplättchen entstand auch die „Quantum Wall“, die von Whittens Auseinandersetzung mit Naturwissenschaft zeugt. Er widmete sie dem Musiker Prince.
In der Ausstellung begegnet man durch Whittens Betitelung seiner Werke Politikern, Musikern und KünstlerInnen wie Louise Bourgeois, B.B. King oder Barak Obama, der den Künstler 2016 mit der National Medal of Arts auszeichnete. Es waren Personen, mit denen sich Whitten verbunden fühlte. Die Hommage an B. B. King entstand 2015, also in dem Jahr, in dem der Musiker starb. Dort schlängelt sich auf pechschwarzem Untergrund eine Farbspur, die durch die vielen Farben an Lebendigkeit zunimmt. Wie ein einziger Ton von B. B. King, der Akkorde stets vermied und mit seinen Solo-Einlagen die Blues-Welt prägte, besticht das Gemälde durch die Einfachheit und Exaktheit. Whitten schaffte es so, B.B. Kings Musikalität und Geist einzufangen. Das allein demonstriert seine künstlerische Größe.
Bis 1. September
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