Die Anarchie der Archive

Wie speichern, verbreiten und archivieren wir Musik im Netzzeitalter? Beim „Find The File“-Festival im HKW diskutierten Kulturtheoretiker und Autoren Probleme, die die unbegrenzte Verfügbarkeit von Musik mit sich bringt

Von der Crowd in die Cloud: Bild vom Bild der Sängerin Fadumiina Hilowle Foto: Roland Owsnitzki

Von Jens Uthoff

Schätzungsweise 50 ­Kameras sind auf Sängerin Fadumiina Hilowle gerichtet, als die Dur-Dur Band International Samstagabend im Haus der Kulturen der Welt ihre letzten Songs spielt. Zwei, drei professionelle Filmteams richten ihre Objektive auf die somalische Allstar-Gruppe, vor allem aber haben viele Fans in den ersten Reihen ihre ­Smartphones gezückt. Sie filmen, fotografieren, machen Selfies vor der Kulisse der 12-köpfigen Band. Vieles davon wandert unmittelbar in die Cloud.

Wie wir Musik speichern, verbreiten und archivieren, wie wir den Herausforderungen des Netzzeitalters und seiner ungeordneten Streuung von Musik begegnen, damit befasste sich das viertägige Musik- und Diskursfestival „Find The File“ im HKW, das gestern Abend zu Ende ging. Die abschließenden Szenen während des Konzerts von Dur-Dur Band International standen somit sinnbildlich für das, was zuvor diskutiert worden war. „Die jungen Leute sind heute alle ihre eigenen Archivisten“, hatte US-Musikethnologe Michael E. Veal im Rahmen einer Podiumsdiskussion gesagt, „sie alle tragen ihre kleinen Archive mit sich herum.“

Dank der Digitalisierung und unserer Kollektivierungswut haben wir auf YouTube, Spotify und Co. einen niedrigschwelligen Zugriff auf so viel Musik wie nie zuvor. Dass das zugleich ein Problem ist, wurde im Gespräch des britischen Musiktheoretikers Simon Reynolds mit der französischen Kulturtheoretikerin Elodie A. Roy und dem schwedischen Medienwissenschaftler Pelle Snickars deutlich. So sei Streaming ja nicht auf Bewahrung von Kultur ausgerichtet, erklärt Snickars: „Spotify und YouTube sind kommerzielle Plattformen, keine Archive. Aktuell haben wir kein adäquates System, um mit diesen Phänomenen umzugehen.“

Snickars, Mitautor des Buchs „Spotify Teardown“, kritisiert nicht nur das Primat des Ökonomischen in dieser Form der Katalogisierung, sondern weist auch auf die dahinterstehenden Algorithmen hin, von denen wir nicht wissen, wie sie funktionieren. (Mit erheblichem Widerstand seitens Spotify hat Snickars’ Team dazu recherchiert.) Reynolds bringt treffend den Begriff „Anarchive“ ins Spiel, den Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst in seinen Publikationen bezüglich dieser Problematik benutzt.

Diese Anarchie der Archive ist Fluch und Segen zugleich. Glücklicherweise, so schildert es Roy, seien wir nicht mehr von Gate­keepern abhängig, sondern dank DIY-Archiven wie etwa dem Women’s Liberation Music Archive seien alternative Geschichtsschreibungen möglich. Und doch spricht sie von einer „Krise des Katalogs“; wir stünden noch einigermaßen ratlos vor dem „Ozean“ an musikalischem Material, der uns umschwimme; mit dem Übergang vom „harten zum weichen oder liquiden Archiv“ gehe Orientierungslosigkeit einher. Ordnung hineinzubringen sei eine gesellschaftliche Aufgabe, so Snickars: „Wir sollten wissen, was wir archivieren wollen und was nicht.“

Auch um ökonomische Faktoren geht es natürlich. „Es war noch nie so billig, Musikfan zu sein“, erklärt Reynolds einmal – aber eben auf Kosten des Musikproduzenten, wie Snickars feststellt. Zwar steigen die Verdienste bei den meisten Streaminganbietern mittlerweile leicht an, aber bei Ausschüttungsbeträgen von 0,00065 Euro pro Stream (YouTube) und 0,0039 Euro (Spotify, Quelle: Digital Music News) klingt das fast unfreiwillig komisch. Für 10.000 Klicks komme eine Band bei Spotify auf 39 Euro Verdienst. Irgendwie passt es ins Bild, dass parallel zum „Find The File“-Festival Zehntausende an verschiedenen Orten gegen die EU-Urheberrechtsreform protestieren – dass es aber ein bloßes „Weiter so!“ und eine dauerhafte Umsonstkultur nicht geben darf, sollte auch dem letzten jener Freies-Netz-Apologeten klar sein.

„Spotify und YouTube sind keine Archive“

Pelle Snickars, Medienforscher

Die Frage, ob staatliche Archive ein gangbares Modell seien, wird auch diskutiert. ­Während des ersten Panels stellt etwa Ahmed Adan, der für das somalische Kulturministerium arbeitet, das Archivprojekt Radio Mogadischu vor. Radio Mogadischu digitalisiert aktuell Kassetten- und Tonbandaufnahmen, Klangmaterial aller Art. Vieles davon wurde aus Bürgerkriegszeiten gerettet. Auch die British Library, die aktuell 95.000 Stücke aus aller Welt listet, wird als Beispiel genannt.

Und dann wäre das noch die Frage, was die unbegrenzte Verfügbarkeit von Musik im Netz mit uns Hörer_innen macht. Reynolds outet sich als ein den heutigen Möglichkeiten des Musikkonsums vollkommen ergebener Fan, Elodie A. Roy sagt, sie fühle sich manchmal fast „gelähmt“; die stetige Präsenz von Musik mache es weniger aufregend, heute Musik zu entdecken.

Musik entdecken: gutes finales Stichwort. Die konnte man neben all den Debatten auch noch. Die eingangs erwähnte Dur-Dur Band International räumte mit ihrer Mixtur aus Funk, Disco und Reggae ordentlich ab, am Abend zuvor konnte man unter anderen Hayvanlar Alemi aus Ankara bestaunen, deren Sound zwischen unauf­geregtem Postrock, Nahostklängen und Psychedelic anzusiedeln ist. Das Trio war im Rahmen eines Labelabends von Sublime Frequencies zu sehen – einem von Alan Bishop betriebenem Label aus Seattle, das Fundstücke aus aller Welt in digitaler und analoger Form wieder­veröffentlicht. Auch ein DIY-Archivar also, dieser Bishop – womit auch am Freitag die Theorie elegant in die Praxis überführt wurde.