Kinderhelfer in Not

Sozialarbeiterin schildert im Sonderausschuss „Jessica“ dramatischen neuen Fall: Trotz des Verdachts auf massive Vernachlässigung und Missbrauch kam ein siebenjähriges Mädchen in ihre Familie zurück. Jugendamt griff nicht ein

von Kaija Kutter

Es war schon spät, als am vergangenen Freitag abend im Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“ der Bürgerschaft Wera Auras von der Beratungsstelle „Zündfunke“ ans Mikro trat. „Ich habe sehr lange überlegt, diesen Fall hier vorzustellen“, sagte sie. Sie habe nicht glauben können, dass nach dem Tod der kleinen Jessica in Hamburg noch „so etwas Schlimmes“ passieren könne (siehe Kasten). Es geht um ein siebenjähriges Mädchen, von dem die Sozialarbeiterinnen von „Zündfunke“ stark annehmen, dass es missbraucht wurde.

Das Kind besuchte eine Förderschule und fiel ihren Lehrern durch stark sexualisiertes Verhalten auf. Unter anderem nahm sie den Penis eines Mitschülers in den Mund. Nach Berichten der Schule, so Auras, habe sich ein erschreckendes Bild ergeben: Demnach war das Mädchen schon lange sexuell interessiert. Zudem war es vernachlässigt, unsauber und musste dringend zum Arzt. So hatte es ein kariöses Gebiss und einen unbehandelten Hörschaden, der zu einer Sprachstörung führte.

Beim alarmierten Amt für Soziale Dienste (ASD) habe der zuständige Mitarbeiter erklärt, er habe „wenig Ahnung vom Thema“, so die Sozialarbeiterin im Ausschuss. Er habe jedoch Zündfunke gebeten, mit dem Kind eine Aufklärung zu versuchen. Daraufhin habe es zwei Treffen zwischen Kind und Lehrerin gegeben. Auras: „Dabei wurde deutlich, dass das Kind extrem sexualisiert war.“ Da es auch Namen nannte, kam die Expertin zu dem Schluss, dass es zu Missbrauch im direkten familiären Umfeld gekommen war.

Das Kind wurde in der Folge zur Kur geschickt und in Pflege genommen. Das Mädchen sei so vernachlässigt gewesen, dass es nicht mal geübt war, Klopapier zu benutzen. Auffällig sei auch gewesen, dass es nicht nach den Angehörigen gefragt und gesagt habe: „Hamburg ist Ficken.“

Ein Richter stellte Strafanzeige, das Kind wurde vom Landeskriminalamt (LKA) vernommen und im Gerichtsmedizinischen Institut untersucht. Die Ärzte fanden Hämatome an den Oberschenkeln, die, so Auras, „auf stumpfe Gewaltanwendung schließen lassen“. Doch plötzlich – als eine Gutachterin einbestellt wurde – habe das Verfahren eine Wendung genommen. Die Gutachterin habe „schon im Vorfeld gesagt, dass das Kind geistig behindert sei“, was aber, so ist Auras überzeugt, nicht stimme.

Die Gutachterin organisierte mehrere Treffen mit der Familie und erklärte schließlich im April vor dem Familiengericht, es gebe „keinerlei Hinweise“ auf sexuellen Missbrauch. Der Richter entschied darauf, das Kind in die Familie zurückzuschicken.

Die Zündfunke-Mitarbeiterinnen, die Betreuer des Kindes und die zuständige LKA-Mitarbeiterin wurden vom Gericht nicht angehört. Auch die Forderung des Vormunds, ein zweites Gutachten einzuholen, wurde dort abgelehnt. Das ASD hätte als einziges dagegen Widerspruch einlegen können, verzichtete aber trotz Drängens der Sozialarbeiterinnen und schloss sich der Sichtweise der Gutachterin an.

Der Fall, der für absolute Stille im Ausschuss sorgte, soll nun am 9. September in nichtöffentlicher Sitzung erörtert werden, wobei auch die Sozialbehörde Stellung nehmen wird.

Zuvor hatte im Ausschuss ASD-Mitarbeiter Lothar Knode aus Bergedorf massive Überlastung beklagt. In seinem Amt gebe es 14 Mitarbeiter für 120.000 Einwohner, darunter sehr viele Kinder auch von Aussiedlern: „Die haben Erziehungsmethoden, das glaubt keiner.“ Es hätten mehr Kollegen ins Rathaus kommen wollen, „aber die sitzen noch am Schreibtisch und arbeiten Rückstände auf.“

In allen ASD sollten mindestens die Sollstellen besetzt sein, mahnte auch Karin Müller von der Caritas. Sie verwies auf den Fall eines Kindes, das einen Sturz aus dem zweiten Stock überlebte – aber statt Hilfe beim ASD einen Platz auf der Warteliste bekam.