Auf den T-Shirts steht dann „End of Poverty“

Aber davon haben die ArbeiterInnen der Textilfabrik in der Republik Moldau nichts. Nicoleta Esinencu zeigt beim „Genossen“-Festival im HAU ihr „Requiem für Europa“

In ihrem Stück „Requiem für Europa“ dokumentiert Nicoleta Esinencu internationale Ausbeutungsverhältnisse Foto: Lilia Nenescu

Von Katrin Bettina Müller

Sie hat noch immer diese wilden Locken und gräbt darin mit den Händen, während sie zuhört, denkt und spricht. Manche Haare stehen wie Antennen senkrecht nach oben. Das passt gut zu einer Regisseurin, die in ihr Land hineinhorcht und auf die Bühne bringen will, wie es den Menschen dort geht.

Nicoleta Esinencu kommt mit der Übersetzerin Eva Wemme zum Gespräch in das Büro vom Hebbel am Ufer (HAU). Ist das Moldauisch, was Nicoleta Esinencu aus der Republik Moldau spricht, frage ich irgendwann. Die Dramatikerin und die Übersetzerin lachen. Offiziell heißt die Sprache der 1991 gegründeten Republik Moldau „Rumänisch“, ist aber überformt vom Russischen, wegen der langen Zugehörigkeit zur Sowjetunion.

100 Jahre dauerte die Geschichte wechselnder Herrschaften von Rumänien oder Russland, die wechselnden Ideologien befeuerten nationalistische und ethnische Klischees, stülpten den Menschen jeweils eine andere Geschichte über. Das führte nach der Unabhängigkeit des Landes zu Fragen der Identität und auch zum Hass auf Russland. Darüber hat Nicoleta Esinencu schon in den Nullerjahren Stücke gemacht.

Rumänisch, Russisch, Englisch reden auch die Stimmen in ihrem neusten Stück „Requiem für Europa“, in all diesen Sprachen machte sie Interviews mit Fabrik- und Saisonarbeitern und -arbeiterinnen der Republik Moldau. Meist redeten erst die mit ihr, die ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Andere fürchteten dessen Verlust.

Die Regisseurin las Studien über die neue Armut, die internationale Investoren in die Billiglohnländer von Osteuropa bringen. Die Republik Moldau ist bei denen beliebt für die niedrigsten Löhne der Region. In „Requiem für Europa“ dient Russland wieder als Drohung: Wenn ihr hier nicht spurt, verlagern wir die Produktion nach dort.

Schon fast zwei Jahrzehnte lang funkt die 1978 geborene Dramatikerin Botschaften aus ihrem Land am Rand zwischen West- und Osteuropa in die Echoräume europäischer Bühnen. Oft musste sie auf Podien über ihr Land reden, es erklären, seine Geschichte erzählen. Ihre Kritik an Politik, alten und neuen Ideologien, an Homophobie und Fremdenfeindlichkeit trugen ihr dabei im eigenen Land viele Feindschaften ein. Und doch fiel auf, dass sie andererseits die Menschen aus dem Land immer verteidigte, um Verständnis warb. Sie nahm die Mission, im Kulturbetrieb seine Stellvertreterin zu sein, mit einer gewissen Wut auf sich.

Requiem für Europa Das Stück von Nicoleta Esinencu ist am Samstag (20.30 Uhr) und Sonntag (17 Uhr) im HAU3, Tempelhofer Ufer 10, zu sehen – auf Rumänisch mit deutschen und englischen Übertiteln.

Genossen Das Stück wird im Rahmen des Festivals „Comrades, I Am Not Ashamed of My Communist Past” präsentiert, bei dem noch bis Sonntag in allen drei HAU-Häusern der Erinnerungspolitik 30 Jahre nach dem Mauerfall nachgegangen wird. Programm: hebbel-am-ufer.de

Mit dem HAU arbeitet sie seit Beginn der Nullerjahre zusammen, teils tourt sie mit ihrem vor acht Jahren in Chișinău gegründeten Teatru Spalatorie, teils werden ihre Texte an deutschen Bühnen inszeniert, vergangenes Jahr zweimal in Stuttgart. „Requiem für Europa“ ist eine Koproduktion mit dem Theater in Graz, im Oktober wird das HAU ein neues Stück von ihr produzieren, das um die Familie, den wiederkehrenden Diskurs um ihren Wert, nicht nur in katholisch geprägten Ländern, kreist. In Chișinău spielen sie wieder an wechselnden Orten, oft auch in Kellern.

Ihre Stücke kommen aus der Peripherie, aber sie berühren das Zentrum. Etwas, das alle auch hier angeht, das dieses Europa heute ausmacht, aber längst nicht überall so sichtbar ist. Man kann es Kapitalismus, die Macht der Kreditgeber, den Expansionsdrang internationaler Firmen nennen.

In „Requiem für Europa“ schneidet Esinencu Stimmen gegeneinander: die Sprache der wirtschaftlichen Verheißungen, von Luxusgütern und Waren, die zu einem Leben im Wohlstand gehören, von beflissenen Politikern, die dem Markt gerne die neuen Regeln überlassen, steht den Erzählungen von Arbeitern und Arbeiterinnen gegenüber, die lange auf ihren Lohn warten, gedemütigt und eingeschüchtert werden, ihre Wasserrechnung nicht zahlen können, kein Geld für Schulbücher haben, das Gemüse aus dem Garten brauchen, aber wenn man kein Wasser hat?

Es ist eine erschreckende Armut, die aus den Stimmen derer zu hören ist, die für niedrigste Löhne lange Schichten fahren und die Norm nicht einhalten können.

„Er sagte, ‚wir sind eine Erfolgsgeschichte auf europäischem Niveau‘. Ich dachte, ‚ich muss mir wieder was leihen‘“, so prallen die Perspektiven aufeinander. Vielfach hört man eine ältere Generation. Eine Frau, die zu sowjetischen Zeiten Lehrerin war, packt nun kleine Roboter in die Überraschungseier der Kinderschokolade. 2.400 am Tag sollen es sein, schafft sie nicht, Lohnabzug. Ein Auftrag der Weltbank wird als Erfolg vermeldet, T-Shirts mit dem Aufdruck „End of Poverty“. Das ist Zynismus frei Haus.

Gesehen habe ich das Stück bisher nicht, nur den Text gelesen. Und von früheren Inszenierungen der Regisseurin in Erinnerung, wie unmittelbar die dokumentierten Stimmen zu uns sprechen. Ihre Stoffe sind schwer, die Inszenierung aber, sparsam, mit einfachen Mitteln, lässt sie schnell zu Verstand und Herz durchdringen. Von ihren Performern sagt sie, dass sie keine Rollen spielen, aber sich mit den Geschichten persönlich verbunden fühlen. Das Europa, das sie der Ausbeutung anklagen, bedrückt ihr Leben und ihre Perspektiven.

Dramatikerin, Regisseurin und auch eine Art Sprecherin für Moldau: Nicoleta Esinencu Foto: Esinencu

Nicoleta Esinencu, die als Kind in der Sowjetunion aufwuchs, hat lange damit gehadert, wie sehr in den Jahren nach der Unabhängigkeit die Mentalität und die Autoritätshörigkeit noch immer vom alten System geprägt war.

Aber heute erzählt sie auch, dass zu sow­jetischen Zeiten jedes Dorf seine Schule, sein Kulturhaus und Krankenhaus hatte. Diese Infrastruktur wurde zerstört, sie fehlt, die Privatisierung hat nicht viel davon übrig gelassen.

Deshalb hört sich für sie der Slogan des Festivals im HAU, in dessen Rahmen ihr Stück läuft, „Comrades, I Am Not Ashamed of My Communist Past“, nicht falsch an.