Die Woche der Entscheidung

Großbritanniens Parlament kann in den kommenden Tagen die Weichen dafür stellen, ob das Land am 29. März die Europäische Union mit Abkommen, ohne Abkommen oder gar nicht verlässt. Nachverhandlungen mit der EU sind gescheitert

Von Dominic Johnson

Das britische Unterhaus beginnt an diesem Dienstag mit einer Serie von Abstimmungen, von denen die Zukunft der Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU abhängt. Zur Abstimmung steht am Dienstag erneut das Brexit-Abkommen vom November 2018, das die Parlamentarier im Januar mit Zweidrittelmehrheit abgelehnt hatten. Kommt es diesmal durch, ist der Brexit für Premierministerin Theresa May geglückt. Scheitert es erneut, und dafür sprach am Montag alles, ist alles offen.

Mit 432 zu 202 Stimmen hatte das 650-köpfige Unterhaus am 14. Januar den Brexit-Deal gekippt. Kern der Kritik war und ist die sogenannte „Auffanglösung“ (backstop), die garantieren soll, dass die zukünftige EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland so unsichtbar bleibt wie heute.

Demnach bleibt in Ermangelung einer anderen Vereinbarung das gesamte Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU und Nordirland darüber hinaus im europäischen Binnenmarkt. Das heißt: Großbritannien bleibt an EU-Zolltarife und EU-Handelsabkommen gebunden, Nordirland unterliegt komplett dem EU-Binnenmarktrecht, und zwischen Nordirland und Großbritannien werden ebenjene Kontrollen nötig, die zwischen Nordirland und Irland vermieden werden sollen. Der „backstop“ ist unkündbar und gilt potentiell auf ewig, und er bildet nach EU-Ansicht die Grundlage für die zukünftigen Beziehungen.

Am 29. Januar stimmte das Parlament daher mehrheitlich dafür, das Abkommen nur dann anzunehmen, wenn der „backstop“ mit „alternativen Arrangements“ ersetzt wird. Seitdem beißt sich Theresa May an der EU die Zähne aus. Der vereinbarte Abkommenstext steht aus EU-Sicht nicht mehr zur Disposition. Die Lage ist festgefahren.

Aber wenn sich London und Brüssel nicht einigen, tritt Großbritannien am 29. März trotzdem aus der EU aus – nur eben ohne Abkommen. Dies hat das Parlament in den 2018 verabschiedeten Brexit-Gesetzen festgelegt. Der sogenannte „No Deal“-Brexit gilt vielen als Schreckgespenst – und die „harte Grenze“ in Irland wäre dann erst recht unumgänglich.

Selbst einflussreiche Regierungsmitglieder in London wollen einen „No Deal“-Brexit um jeden Preis verhindern. Um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, versprach Premierministerin May am 26. Februar, bis zum 12. März endgültig über das Ergebnis ihrer Nachverhandlungen abstimmen zu lassen – und für den Fall einer Ablehnung Voten über einen „No Deal“-Brexit und über eine Verschiebung des Brexit folgen zu lassen.

Da eine Zustimmung zu Mays Nachverhandlungen oder zum „No Deal“-Brexit als unwahrscheinlich gilt, rückt nun eine Verschiebung des Brexit in den Mittelpunkt. Das aber ist nicht so einfach, und nicht nur, weil alle anderen EU-Mitglieder zustimmen müssen und Bedingungen stellen können. Jede Verschiebung über Ende Juni hinaus würde bedeuten, dass Großbritannien an den Europawahlen im Mai teilnimmt – das wäre weder auf dem Kontinent noch auf der Insel zu vermitteln. Eine Verlängerung lediglich bis Juni aber dürfte die festgefahrene Lage nicht lösen; der „No Deal“-Brexit wäre lediglich um drei Monate aufgeschoben.

„Das Haupthindernis ist ein Mangel an politischem Vertrauen und gutem Willen“

Britischer Parlamentsausschuss

Es sei denn, das Nordirland-Grenzproblem wird entschärft. Dies muss im Falle eines No-Deal-Brexits sowieso passieren – sonst muss Irland Kontrollen an seiner neuen EU-Außengrenze einführen oder steht als EU-Vertragsverletzer da. Großbritannien hat zugesagt, keine Kontrollen einzuführen.

Der Nordirland-Ausschuss des britischen Parlaments legte vergangene Woche einen Bericht vor, wonach es durchaus möglich wäre, die Grenze unsichtbar zu lassen und dennoch fällige Kontrollen durchzuführen. Dies könne in den Unternehmen selbst sowie elektronisch geschehen, unter Verwendung bestehender EU-Zollsysteme und eines umfassenden Datenaustauschs. „Das Haupthindernis ist ein Mangel an politischem Vertrauen und gutem Willen zwischen den Verhandlungsparteien“, so die Parlamentarier.

Das gilt auch für den Brexit-Prozess insgesamt. In den Parlamentsberatungen der nächsten Tage spielt das allerdings keine Rolle. Es ist nicht einmal klar, was am Dienstag genau zur Abstimmung steht: Einen neuen Vertragstext gibt es nicht.

So geht es vor allem ums Atmosphärische – also ob May einen Weg findet, die Stunde der Entscheidung wieder zu vertagen. Sollte sie die Woche als Premierministerin überstehen, richten sich alle Augen auf den EU-Gipfel kommend Woche, eine Woche vor dem Brexit. Der wäre die wirklich letzte Chance.