Leserbrief

Der in der vergangenen Woche auf dieser Seite veröffentlichte Bericht „Umstrittener Gewaltforscher“ (taz v. 16. 2.) über das von Jörg Baberowski an der Berliner Humboldt- Universität (HUB) geplante „Interdisziplinäre Zentrum für vergleichende Diktaturforschung“ hat Kritik ausgelöst, die wir hier dokumentieren wollen. Nur ein Hinweis dazu: Das in dem Text zitierte Gutachten von Professor Thomas Lindenberger war in nicht anonymisierter Form ein Teil der Unterlagen des Akademischen Senats der HUB zu seiner öffentlichen Sitzung am 15. 1. 2019.

Sehr geehrter Herr Kretschmar,

nach Lektüre Ihres Artikels über die „Diktaturforschung an der Humboldt-Uni“ sind meinerseits einige Anmerkungen erforderlich: Das von mir verfasste Gutachten wurde der Humboldt-Uni ausschließlich für die interne Entscheidungsfindung zur Verfügung gestellt und war weder von mir noch von der Humboldt-Uni für die Veröffentlichung bestimmt. Der auszugsweise Abdruck stellt – völlig unabhängig davon, wie es dazu kommen konnte, dass der taz offensichtlich eine nicht anonymisierte Fassung vorliegt – eine Verletzung meiner Autorenrechte dar.

Zudem werden im Schlussteil des Beitrags die Gründe meiner Empfehlung der Nichtförderung extrem verkürzt: „Einzig nachvollziehbarer Zweck“ sei die „nutzlose Verringerung der Lehrverpflichtung“ der beteiligten Professoren und Professorinnen. Wohl spielten Aspekte des vorgeschlagenen Institutsformats auch eine Rolle, der Schwerpunkt meiner Argumentation lag jedoch auf grundlegenden inhaltlichen Schwächen des Antrags, die in Ihrem Artikel unerwähnt bleiben.

Zum Zweiten bezog sich das Gutachten ausschließlich auf den von dem Historiker Jörg Baberowski und der Juristin Anna-Bettina Kaiser vorgelegten Antrag. Die Humboldt-Uni hat mich im Rahmen eines auf 2 bis 3 Seiten zu beschränkenden Gutachtens nicht um meine Meinung zur allgemeinen fachlichen Reputation der Antragsteller gefragt. Das sei hier für meinen Fachkollegen nachgeholt: Jörg Baberowski ist zweifellos ein außerordentlich produktiver und origineller Historiker, der sehr viel für das internationale Renommee der in Deutschland betriebenen Osteuropageschichte getan hat. Daran ändert ein Antrag, den ich als Gutachter nicht gelungen finde, gar nichts. Und auch die von Ihnen zugegebenermaßen kreativ und fantasievoll ersonnene Konjunkturgeschichte der Totalitarismustheorie seit der Hochphase des Kalten Kriegs über den sogenannten Historikerstreit der achtziger Jahre bis hin zum Siegeszug des vorgeblich im Klein-Klein der nazistischen und stalinistischen Gewaltorgien versinkenden „Mikrovergleichs“ in den 2000er Jahren verfehlt das eigentliche Thema, nämlich die Frage, wie historisch-vergleichende Erforschung von Diktaturen zu betreiben sei. So leicht lässt sich ein zweiter „Historikerstreit“ nicht herbeischreiben, auch nicht als Farce.

Thomas LindenbergerProfessor für Totalitarismusforschung an der Technischen Universität Dresden.