Die Wahrheit: Scooterman spielt den Artisten
Alptraum im Rollstuhlwechselraum: eine weitere Geschichte, die zeigt, wie beschwerlich so ein Leben mit MS ist.
Z uletzt hatte sich Scooterman immer wieder darüber beklagt, wie vorhersehbar sich seine Wochenenden gestalten. Aber warum? Nur weil er seit siebzehn Jahren an seiner noch immer unheilbaren Multiplen Sklerose leidet? Fast schien es ihm selbst so, als würde er die Augen vor den durchaus vorhandenen Entertainer-Qualitäten seiner Krankheit verschließen. Hatte er nicht mehr als einmal darüber geschrieben, zu welchen geradezu artistischen Einlagen sie ihn manchmal zwingt?
Neulich gab er eine im Rollstuhlwechselraum. Gerade war der Scooterman von einem Ausritt auf seinem E-Scooter nach Hause gekommen. Jetzt musste er nur noch einen kleinen Schwung auf den Handrollstuhl schaffen, der brav auf ihn gewartet hatte. Eine Sekunde zu spät merkte er, wie steif gefroren und gefühllos seine Hände in den letzten beiden Stunden geworden waren. Keine Chance, die Stützbewegung richtig einzuschätzen. Dafür klingelte sein Mobiltelefon. Was auch nicht unbedingt für Ruhe sorgt, wenn man irgendwo zwischen Scooter und Rollstuhl hängt.
Hatte Ihr Scooterman schon erwähnt, dass ihm neben seinem Mobiltelefon auch noch zwei Schlüssel aus der Hand gefallen waren? Es wurde also Zeit, um Hilfe zu rufen. Jedenfalls wäre das die logischste Lösung gewesen. Zumal sich auf der anderen Seite des Flurs ein Seiteneingang zu einer Kindertagesstätte befindet.
„Hallo?!“, zwang sich der Scooterman zur Ruhe. „Hallo?!“ Beim zweiten Mal klang er schon deutlich entschiedener. „Hallo!“ Beim dritten Mal war ein Anflug blanker Verzweiflung in der Stimme des Scootermans nicht mehr zu leugnen. Zwischen ihm und der Metalltür lagen etwa fünfzig Zentimeter.
Nahezu zirzensisch
Noch einmal krallte er sich mit einer Hand in den Lenker des Scooters, und mit der anderen Hand versuchte er eine Art Liegestütz. Den er allerdings abbrach, als er mit dem Kinn zuerst gegen das Unterteil seines Gefährts rutschte. Wie in Zeitlupe. Aber dennoch schmerzhaft.
Dass gerade in diesem Moment die Stimmen zweier Kinder auf der anderen Seite der Tür hörbar wurden, beruhigte ihn keineswegs. Denn er konnte nicht einmal ermitteln, in welcher Sprache sie ihm etwas zuriefen. Vielleicht war es die düstere Verzweiflung, die dem Scooterman bislang unbekannte Kräfte zuwachsen ließen. Nahezu zirzensisch stemmte er sich plötzlich auf seinen Hände hoch. Sekunden später lag er im Fußraum des Scooters. In der Aufregung platzte allerdings ein Blutgefäß in seiner Nase. Frisches Blut hat noch nie eine grüne Hose geschmückt.
Also hatte der Scooterman am Ende dieses scheinbar endlosen Wochenendes schon wieder etwas Sinnvolles zu tun. Eine Waschmaschine zu füllen nämlich. Und da er sich dabei von der Vielzahl der möglichen Waschprogramme überfordert fühlte, wählte er leider das falsche. Und mit der Zugabe verlängerte sich das alles andere als langweilige Wochenende bis in den Montag.
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