: Vom Schatten über dem Alltagsgeschehen
Die Geschichte, die das Leben ist, soll weitergehen: Matthias Nawrat erkundet in seinem Roman „Der traurige Gast“ so bedächtig wie genau die Gegenwart
Von René Hamann
Es gibt Zeichen und Hinweise, und nicht alles stimmt: „Es ist der Winter des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche“, sagt der Deckeltext zu diesem Roman, „Der traurige Gast“ von Matthias Nawrat. Aber das ist nicht das Wesentliche. Um den Anschlag geht es nur in zweiter Linie, schon chronologisch steht dieses für das Berlin der jüngeren Vergangenheit zentrale Ereignis erst auf Seite 181. Man kann auch nicht wirklich sagen, dass der Roman auf dieses Ereignis zuläuft. Obwohl einiges dafür spricht. Er handelt von Polen in Berlin, von polnischen Exilanten, die wie der Erzähler und Autor recht früh nach Deutschland gekommen sind. Er handelt vom Tod und von Trauer, von der Stadt und der Desorientierung, vom Chaos und der Politik, er handelt vom Leben, von der Gegenwart.
„Während ich auf neueste Informationen im Live-Ticker wartete“, heißt es drei Seiten später auf Seite 184, „dachte ich, dass ich wie Tolkien einen Roman voller Liebe zum einfachen Leben in einer friedlichen, ländlichen Gegend schreiben wolle. […] Von Eltern wäre darin die Rede, von Großeltern und von den eigenen Kindern. Von einem freundlichen Mädchen, in das man verliebt war. Es gäbe die Welt außerhalb, und etwas täte sich dort, es gäbe die Andeutung einer Dunkelheit, die sich unterschwellig bemerkbar machte, die langsam näher kam, aber noch wäre diese äußere Welt weit weg, nur eine ferne Andeutung, wie eine ferne Erinnerung an etwas, das einmal wichtig werden würde, aber heute noch nicht wichtig war.“
Im Grunde beschreibt Nawrat hier seinen Roman selbst oder zumindest einen nahen Verwandten davon. En passant gibt er auch die merkwürdige, irgendwie graue Distanz wider, die man damals spürte, als der Anschlag passierte. Jedenfalls solange man nicht unmittelbar mit den Ereignissen am Breitscheidplatz zu tun hatte, sondern lediglich einen Alert auf Facebook beantwortete.
Der Roman beginnt aber nicht im Dezember 2016, sondern etwa zwei Jahre vorher. Ein aus Opole stammendes Ich, das als Schriftsteller arbeitet und drei „Bände mit Erzählungen“ geschrieben hat (Nawrat selbst hat vor diesem Buch drei Romane veröffentlicht, es sind nur wenige Markierungen, die einen Unterschied zwischen Autor und Erzähler setzen), erzählt von seinen Besuchen bei einer älteren, aus Polen stammenden Architektin, die im Westteil der Stadt lebt. Diese Architektin namens Dorota bestimmt mit ihren wunderlichen und traurigen Geschichten den ersten Teil des Romans, bei dem man sich lange fragt, auf was es hinausläuft. Später sind es der Tankstellenkassierer (das Wort Tankwart gehört inzwischen einer anderen Zeit an) Dariusz und der Schauspieler Eli, die im Fokus stehen.
Matthias Nawrat: „Der traurige Gast“. Rowohlt, Reinbek 2019, 304 Seiten, 22 Euro
Es ist ein bedächtiges Erzählen, das Nawrat hier in seinem vierten, für den Buchpreis der Leipziger Messe nominierten Roman unternimmt. Sein eigener Erzähler nimmt sich dabei fast bis zur Unsichtbarkeit zurück; seinen eigenen Empfindungen, so sie überhaupt vorkommen, misstraut er. Stattdessen lässt er die anderen erzählen und gibt ihre Geschichten wider. Es sind Geschichten, die von Heimat und Verlust handeln, vom Leben und vom Tod; natürlich geht es viel um die deutsch-polnische Vergangenheit, um Geschichten aus dem Krieg, die in einem nüchtern-grauen Tonfall erzählt werden. Sie sind erschreckend, sie sind real, sie werden nicht anmahnend erzählt, umso größere Wirkung haben sie.
Natürlich wird auch von der Liebe erzählt. Und der Liebe geht es in „Der traurige Gast“ nicht anders als den anderen Dingen: Sie kommt und sie geht, sie trifft oft an der falschen Stelle auf oder weicht nach erstem Scheitern schnell zurück. Dorota hat immer noch ein gutes Verhältnis zu ihrem Ex-Mann, einem Deutschen, der längst in einer anderen Ehe mitsamt Kindern sein Glück gefunden hat. Auch Dariusz und Eli erzählen Geschichten von der Liebe, die meist nicht so romantisch sind.
Überhaupt die Liebe, überhaupt auch Kinder: Der Erzähler ist selbst verheiratet, mit einer Frau namens Veronika, die allerdings nicht einmal als ein trauriger Gast in diesen Erzählungen vorkommt – von ihr wird eigentlich überhaupt nicht erzählt. Das bleibt eine seltsame Leerstelle; eine andere ist, dass der Ich-Erzähler von allen Protagonisten früher oder später gefragt wird, ob sie denn auch Kinder haben. Und immer wird darauf hingewiesen, dass es aber gut wäre, bald Kinder zu bekommen.
Die Geschichte, die das Leben ist, soll also weitergehen – auch wenn das Leben hier von seinen Schattenseiten her betrachtet wird, die naturgemäß grau sind. Es muss einfach weiter gehen, das Leben. Über Generationen hinweg. Auch wenn sich vielleicht nicht viel ändert – irgendwo taucht der Tod immer auf, meist in Menschengestalt wie auf dem Breitscheidplatz. „Der traurige Gast“ ist also der Tod selbst, oder der Schatten des Lebens, oder Dorota, die Architektin, oder der Erzähler, das bleibt offen und dem Leser überlassen.
Es ist ein sehr angenehmer, genauer Ton, den Nawrat für seinen vierten Roman wählt. So klingt das Buch ein wenig wie Thomas Bernhard (zwischen „Frost“ und „Ja“) ohne Spott oder Wilhelm Genazino ohne Humor. Gegenwart wird recht trocken als Gegenwart erzählt: Die große Geschichte schaut immer mal rein ins alltägliche Geschehen, bleibt aber gleichzeitig völlig äußerlich, daran ändert auch der Anschlag nichts. Und doch wirft sie ihre Schatten. Das merkt man auch an der Verunsicherung, von der ebenso und zum Glück unaufgeregt erzählt wird – auch von der Verunsicherung des polnisch-deutschen Alltags durch den Einbruch des plötzlich Fremden (mit anderen Worten: ja, die mit dem arabischen Hintergrund treten verzerrt als potenzielle Gefahr auf, was in alltäglichen Situationen aufgelöst wird).
Für den Preis der Leipziger Buchmesse ist Nawrat ein aussichtsreicher Kandidat. Es ist ein ruhiges, gutes Buch.
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