Der eingebildete Kranke?

Der britische „Economist“ sieht die „Agenda 2010“ gelingen, die Ökonomie erstarken, Deutschland im Aufschwung. Und wir können es kaum glauben. Hindert uns eine kollektive Depression daran?

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Der Economist meint es zu wissen: Deutschland sei „superwettbewerbsfähig“, befand das Blatt – und setzte einen Bundesadler mit kraftstrotzenden Muskeln aufs Titelbild. Allerdings litten das Verbrauchervertrauen und der Konsum unter den Ängsten der Deutschen um die Zukunft ihrer sozialen Sicherungssysteme und der Sorge um den Arbeitsplatz. Die Diagnose scheint also klar: Objektiv ist längst alles wieder im Lot – oder wenigstens auf dem besten Weg – subjektiv hingegen will man es nicht wahrhaben. Der deutsche Michel – ein eingebildeter Kranker? Hindert gar eine kollektive Depression die Deutschen daran, ihren Aufschwung wahrzunehmen?

Die Doppelbedeutung des Worts hat von jeher Anlass gegeben, über den Zusammenhang von psychischer und ökonomischer Depression zu spekulieren. Im Gegensatz zur früher gerne aufgemachten Rechnung „ökonomische Flaute = allgemeine psychologische Niedergeschlagenheit“ (insbesondere bei den finanzschwachen „Massen“) ist in letzter Zeit eine andere Korrelation in den Blick gerückt: die, wenn man so will, neoliberale Depressionsformel, derzufolge Depression die Kostenseite der hochgradig individualisierten Gesellschaft repräsentiert.

Die neue Volkskrankheit einer „kollektiven Erschöpfung“ sei die Konsequenz eines in alle Intimbereiche vordringenden Turbokapitalismus, der den Individuen ein Ideal von „Selbstverwirklichung“ im Koordinatensystem von Dominanz und Authentizität aufzwinge: Sie hätten die wirtschaftlichen Imperative nach Effizienz und Aufstieg so weit verinnerlicht, dass sie sich selbst bis zum depressiven Ausgebranntsein ausbeuteten.

Das erscheint, zumindest in einigen gesellschaftlichen Bereichen, diagnostisch stimmig, erklärt aber nicht das vielleicht erstaunlichste Symptom der neuen deutschen Melancholie: Depression hält nämlich nicht nur nachgewiesenermaßen tatsächlich einen Spitzenplatz unter den Volkskrankheiten, sondern ist in gewissem Sinn zu einer Modekrankheit mutiert. Jedenfalls als Diagnose bei jenen selbst ernannten Eliten, die – zum Beispiel in den Chefredaktionen neokonservativer Blätter – die dick-dumm-faul-und-gefräßigen, sozialhilfegierigen, depressiven Jammerer zu den Hauptschuldigen der Baisse machen. Keine Frage, es gibt sie, und sie tun niemandem gut. Aber das Spiel mit der Depressionsdiagnose als Stigmatisierungsstrategie ist nicht nur gefährlich, sondern selbst Symptom. Depressiv sind halt immer die anderen.

Tatsächlich ist Depression eine allgemein gemiedene Diagnose, weil sie das gepflegte Selbstbild von Fitness und Dominanz konterkariert. Deshalb neigen insbesondere Männer dazu, die Krankheit aus Scham zu verleugnen. Was weit reichende Folgen hat, die tatsächlich unmittelbar ins Ökonomische hineinreichen. In der Therapieforschung gilt die Faustregel: Nur etwa die Hälfte der Depressiven sucht einen Arzt auf, nur die Hälfte dieser Einsichtigen wird richtig diagnostiziert und wiederum nur die Hälfte von ihnen richtig therapiert. Die gesellschaftlichen Kosten, die aus dieser Kette von Halbheiten resultieren, sind immens. Vielleicht lässt sich die Faustregel aber auch im übertragenen Sinne anwenden: Wenn, laut Economist, die Diagnose stimmt, die der Agenda 2010 zugrunde liegt, dann stellt sich immer noch die Frage nach der richtigen Therapie. Sie kann, wenn wir die Grundlagen unserer Gesellschaft nicht antasten wollen, nur im Bewusstsein des tatsächlich existierenden Wechselspiels zwischen Psychologie und Ökonomie erfolgen. Nur wer die psychosozialen Folgen der ökonomisch notwendigen Schritte reflektiert und klar benennt, hat die demokratische Legitimation zum Handeln.

Nichts wäre verhängnisvoller als jene große Koalition der Ausgebrannten und der Frustrierten, in der sich die alten und die neuen Depressiven der alten und der neuen Länder vereinigen.