Erklärungsmodell: Gier

THEATER Am Schauspielhaus Hamburg hat Albert Ostermaier sich mit „Ein Pfund Fleisch“ daran versucht, mithilfe von Shakespeare Zeitdiagnose zu betreiben. Das gelingt nur mittelmäßig

Ostermaiers Kritik ist dabei in etwa so radikal wie die Gier seiner Hauptfiguren

Das „Spielfeld“ ist ein karges Weiß. Nur in der Mitte baumelt Fleisch, eine einzelne Schweinehälfte hängt von der Decke herab. Wir sehen einen Mann im Anzug, der mit Boxhandschuhen bekleidet herumtänzelt und das tote Fleisch mit Schlägen malträtiert. Nein, das ist nicht Rocky, sondern ein Kaufmann namens Shylock (Dominique Horwitz). Ein harter Hund, der Sätze wie Schlagsalven loslässt: „Am besten kauft man dann, wenn das Blut auf den Straßen klebt.“

Im Auftrag des Schauspielhauses hat sich Albert Ostermaier daran versucht, mithilfe von Shakespeare Zeitdiagnose zu betreiben. Sein Stück „Ein Pfund Fleisch“, inszeniert von Dominique Schnizer, überträgt die Handlung von „Der Kaufmann von Venedig“ auf die heutige Finanzwelt.

Das klingt so: Der junge Lebemann Bassanio (Stefan Haschke) will um die Hand der hübschen und reichen Erbin Portia (Maria Wardzinska) anhalten und bittet seinen Freund Antonio, ihm 3.000 Dukaten dafür zu leihen. Der alte Antonio, der gerade sein ganzes Vermögen investiert hat, um es noch vor Börsenschluss um ein vielfaches vermehrt wieder einzusacken, leiht sich das Geld dann ausgerechnet bei seinem Erzfeind Shylock. Dieser verzichtet zwar auf Zinsen, verlangt aber zur Sicherheit, dass ihm bei nicht-fristgerechter Zahlung „ein Pfund Fleisch“ aus Antonios Körper zusteht.

Ostermaiers Versuch den Handlungsrahmen so zu reduzieren, dass dieser Deal um Menschenfleisch auf die Finanzkrise beziehbar wird, ist eine gute Idee. Doch gelingt ihm das nur auf Kosten der facettenreichen Ambivalenz, die das Shakespear’sche Original auszeichnet.

Offensichtlich war Ostermaier das kritische Potenzial wichtiger. Die Kritik ist dabei in etwa so radikal wie die Gier und der Zynismus seiner Hauptfiguren. Statt Shylocks Verhalten auf seine halb entrechtete Situation als ein im Ghetto lebender Jude zurückzuführen, entscheidet sich Ostermaier für die Gier als Erklärungsmodell. Eine kapitalistische Gier, die auch vor Menschenfleisch nicht Halt macht. Das mag es geben, bei einer Figur wie Shylock erzeugt das hier und da schon mal einen schiefen Ton.

Damit das Ganze dann nicht falsch verstanden wird und auf die heutige Finanzwelt anwendbar bleibt, wird der christliche und scheinheilige Antonio als ein noch übleres Schwein als der Jude Shylock dargestellt.

Die einzige weibliche Figur des Stücks lässt sich als Vertreterin einer alternativen Haltung zur allgemeinen Gier verstehen. Anders als bei Shakespeare ist Portia hier nicht die Figur der Gnade, sondern eine Rebellin in Paris-Hilton-Montur, die später schließlich aus ihren goldenen Pumps steigt, sich einen Militärparka überwirft und ankündigt, dass sie als Mann, also Gratiano, verkleidet das Männer-Kapitalismus-System von innen her zerstören will. Doch wie diese Verwandlung wirkt die kritische Ausrichtung des Stücks der Handlung wie übergestülpt. „O, wie hätte Shakespeare … die Geheimnisse der Börsenherzen aufgedeckt!“, hat sich Ludwig Börne schon 1828 gefragt. Jedenfalls nicht so.  SAMUEL MOON

nächste Aufführungen: 22. und 27. 9., jeweils 20 Uhr