Kontext findet Wunsch-OB

von unserer Redaktion

Kontext schaut beim OB-Wahlkampf in Stuttgart nicht nur zu. Wir mischen uns ein. Und zwar mit einer Umfrage, die auf einem Wahlverfahren basiert, das die Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt. Denn das derzeitige Kommunalwahlrecht entmündigt die Wähler und überlässt Entscheidungen den Parteistrategen in den Hinterzimmern. Unterstützt wird die Kontext-Umfrage, bei der in einem Wahlgang ein Favorit und eine Zweitplatzierung angegeben wird, von der Initiative Mehr Demokratie e. V.

Wahlen sollen den Willen der Bürger widerspiegeln. Doch viele Stuttgarter fühlen sich im OB-Spiel eher hilflos, denn die Kür gleicht seit 16 Jahren einem Glücksspiel. Würde man – zum Beispiel nach irischem Vorbild – gleichzeitig einen Haupt- und einen Ersatzkandidaten wählen, hätte Wolfgang Schuster (CDU) nur geringe Chancen gehabt. Gerade mal neun von 40 Wahlberechtigten stimmten 2004 im zweiten Wahlgang für Schuster. Das genügte nach dem Kommunalwahlrecht in Baden-Württemberg, um Oberbürgermeister von Stuttgart zu werden, immerhin das angeblich zweitwichtigste Amt im Lande.

Acht Jahre zuvor hat Schuster mit 43,1 Prozent der Stimmen die Wahl gewonnen. Rezzo Schlauch von den Grünen erhielt 39,3 Prozent. Hätten die beiden SPD-Kandidaten Rainer Brechtken und Joachim Becker auf eine Kandidatur im zweiten Wahlgang verzichtet, hätten sich ihre Wähler – im zweiten Durchlauf noch 18,9 Prozent – für Schuster oder Schlauch entscheiden müssen. Für fast alle Wahlbeobachter war damals klar, dass das grüne Schwergewicht das Rennen gemacht hätte.

Anmerkung am Rande: als Rezzo Schlauch in Crailsheim bei der OB-Wahl 1982 mit 12 Prozent weit hinter dem SPD-Kandidaten lag, hatte sich der damalige Newcomer geweigert, beim zweiten Wahlgang zurückzuziehen. Die Folge: der CDU-Kandidat gewann knapp mit drei Prozent Vorsprung.

2004 hatte die SPD-Kandidatin Ute Kumpf die Chance zu gewinnen. In der Stichwahl kam sie immerhin auf 42,2 Prozent. Doch ihr grüner Gegenkandidat Boris Palmer – heute Oberbürgermeister in Tübingen – rief dazu auf, Wolfgang Schuster zu wählen, der dann trotz niedriger Wahlbeteiligung gewann.

Was die Stuttgarter 1996 und 2004 tatsächlich wollten, interessierte die Politiker nicht. Das Wahlrecht überlässt die Entscheidung, ob ein Kandidat beim zweiten Mal erneut oder sogar erstmals antritt, den Parteien beziehungsweise den Kandidaten. Damit werden taktischen Spielchen und Hinterzimmer-Kungeleien Tür und Tor geöffnet, der Wille des Wählers wird ignoriert.

In Irland nimmt man das Volk dagegen ernst. Statt in zwei Wahlgängen gehen die Iren nur einmal zur Urne, und sie können dabei ihre Präferenzen festlegen. Sie erklären, wer ihr Favorit ist und wen sie bei einem möglichen zweiten Wahlgang ersatzweise wählen würden. Beispiel Präsidentenwahl 1990. Die Auszählung der Hauptstimmen ergab folgendes Ergebnis:

Kandidat Hauptstimmen ProzentBrian Lenihan 694.484 44,1 % Mary Robinson 612.265 38,9 % Austin Currie 267.902 17,0 %

Da keiner der drei Kandidaten mehr als die Hälfte der Hauptstimmen erreicht hat, wurden die Ersatzstimmen des Verlierers Austin Currie ausgezählt. Auf diesen 267.902 Stimmzetteln war 205.565 Mal (76,7 Prozent) Mary Robinson als Zweitpräferenz angegeben. Brian Lenihan erhielt nur 36.789 Ersatzstimmen (13,7 Prozent). 25.548 Stimmen (9,5 Prozent) verfielen, da keine Zweitpräferenz angegeben war. Insgesamt ergab sich nach der zweiten Auszählung das folgende Bild:

Kandidat Hauptstimmen ProzentMary Robinson 817.830 52,8 % Brian Lenihan 731.273 47,2 %

Damit war nicht Brian Lenihan, der zunächst in Führung lag, sondern Mary Robinson zur Präsidentin gewählt worden. Und die Iren mussten nicht ein zweites Mal wählen gehen. Das Prinzip bei der Auszählung: Wer mit Haupt- und Ersatzstimmen zuerst die 50-Prozent-Grenze überschreitet, hat gewonnen.

Dieses Modell der im ersten und einzigen Wahlgang integrierten Stichwahl fordern auch die Initiativen Mehr Demokratie e. V. und Wahlrecht.de. Die Parteien in Baden-Württemberg hat das Thema freilich noch nie interessiert. Es spielt weder im Koalitionsvertrag der Grünen und der SPD eine Rolle noch bei den derzeitigen Diskussionen über eine Änderung des Kommunalwahlrechts.

Kontext startet Umfrage

Die Kontext:Wochenzeitung will jetzt die Probe aufs Exempel machen. Wir wollen mit einer repräsentativen Umfrage noch vor dem ersten Wahlgang am 7. Oktober erkunden, wem die Bürger ihre Hauptstimme (1. Wahl) und wem sie die Ersatzstimme (2. Wahl) geben würden. Und wir werden die Stimmen dann so auszählen wie in Irland. Taktische Überlegungen der Wähler spielen dabei keine Rolle mehr. Niemand müsste auf die Wahl seines Lieblingskandidaten verzichten.

Das Ergebnis wird kurz vor der Wahl veröffentlicht und trägt gewiss zu einer lebhaften Diskussion über den zweiten Durchgang bei, der von allen Beobachtern erwartet wird. Und es kann die Abgeordneten des Landtags ermuntern, das Thema endlich auf die Tagesordnung zu setzen.

Die Kontext-Umfrage wird rund 7.000 Euro kosten. Das ist ein großer Betrag für eine kleine Zeitung. Deshalb: Wer das Mehr an Demokratie unterstützen will, kann das ganz praktisch tun – mit einer Spende. Sie helfen uns mit jedem Betrag, den Sie an den „Kontext:Verein für ganzheitlichen Journalismus e.V.“ – Stichwort „Umfrage“ – überweisen. Die Spenden sind steuerbegünstigt. Kontonummer 7011 850 600, GLS Bank, Bankleitzahl 430 609 67.