„Mama, sag: Willst du ins Paradies?“

AUFSTAND „Mutter aller Schlachten“ nennen Rebellen die syrische Revolution. Ihr informelles Sprachrohr: Facebook. Wer da nach dem Wort „Mutter“ sucht, findet verstörende Textfragmente

■ Revolution: Der Aufstand gegen Präsident Baschar al-Assad begann im März 2011 mit friedlichen Protesten, die gewaltsam aufgelöst wurden. Seit Beginn der Revolution wurden nach UN-Angaben rund 20.000 Menschen getötet.

■ Netz: Über Facebook riefen Aktivisten zur „Revolution bis zur Freiheit“ auf. Die Reporter Sven Recker und Koumay al Mulhem, die Journalisten in Krisenregionen schulen, haben private und offizielle Facebook-Profile aus Syrien auf das Wort „Mutter“ durchsucht.

■ Quellen: Die Autoren der Textfragmente: Der syrische Dichter Wafai Laila lebt in Bahrain. Die syrische Journalistin Ola Malass stammt aus Damaskus. Aboud Saeed lebt in Manbej, der Student Somar Almir Mahmoud in Berlin. Das Profil Bashar al-Assad ist die inoffizielle Seite des Präsidenten, the Syrian Revolution 2011 ein Informationsorgan der syrischen Rebellen. FNN Syria ist eine syrische Nachrichtenseite auf Facebook, die aufseiten der Revolution steht.

PROTOKOLLE SVEN RECKER
UND KOUMAY AL MULHEM

Wafai Laila / Profil privat / 26. Juli 2012 / Nachrichten von meiner Mutter:

Lieber Wafai, der Sohn meiner Cousine Samara wurde getötet. Er kam gerade von der Arbeit, da haben sie ihm in den Kopf geschossen. Er ist 37 Jahre alt, vier Tage hat er auf der Intensivstation überlebt, dann ist er gestorben. Er hat drei Kinder. Oh weh, oh weh, wir haben uns nicht mal getraut, nach Zaahira zu fahren, um Samara Beileid zu wünschen. Ich hab sie angerufen. Was die Molokhiya [spinatähnliches Gemüse, Anm. d. Red.] betrifft: Wasch sie zuerst ab, lass sie ein bisschen trocknen, steck sie in Tüten und frier sie ein. Ich hab dir ein paar Rezepte besorgt. Pass gut auf dich auf. Uns geht’s gut, könnte kaum besser sein.

Ola Malass / Profil privat / 16. Juli 2012 / Brief der Mutter des Märtyrers Ghiath Matar:

Am dritten Tag kamen Asala und die Malass-Zwillinge. Sie sagten: „Die Gasbomben gehören zu denen und Ghiath Matar gehört zu uns.“ Außerdem ist heute ein toller Tag, weil Wasfi al-Muassirani das Lied „Yamo“ [Mama] gesungen hat. Er widmete es mir in der Livesendung, weil ich deine Mutter bin. Er sang: „Ghiath Matar ist nicht tot. Trillert ihm zu, ihr lieben Mädchen!“ Ich halte meinen Kopf hoch. Ich bin stolz darauf, dass du mein Sohn bist. Ich prahle damit, dass ich dich neun Monate in meinem Bauch getragen hab, dass ich wegen dir schlaflose Nächte hatte. Ich bin stolz darauf, dass du von meiner Milch gesaugt hast, stolz darauf, dass ich deine schmutzige Wäsche gewaschen habe. Ich schreibe dir unter Tränen. Ich vermiss dich, du mit dem großartigsten und reinsten Lächeln des Universums. [Ghiath Matar wurde im September 2011 ermordet. Er wurde bekannt, nachdem er Wasser und Blumen an Soldaten der syrischen Armee verteilt hatte.]

Aboud Saeed / Profil privat / 29. Juni 2012:

Meine Mutter kommt plötzlich, ohne vorher anzuklopfen, in mein Zimmer. Bei uns zu Hause klopft man nicht an. Es gibt nur ein Zimmer, von dem ich sage, es sei meines, von dem meine Mutter sagt, es sei meines, und von dem Gäste sagen, es sei unseres. Überall liegen Taschentücher herum. Triefend von Sperma und Angst. „Aboud, wieso schläfst du nicht?“, fragt sie. „Komm, Mama, setz dich her, nimm eine, rauch!“ Meine Mutter kauert sich zu mir, steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Ich gebe ihr Feuer. Keine Ahnung, wo sie das herhat: Sie tippt mir immer so auf die Hand, wenn ich mit Anzünden fertig bin. Rauch nur, Mama, rauch. Spei dein inneres Feuer immer wie ein Drache. Mama, findest du nicht auch: Diese Eva Rose ist die schönste Pornodarstellerin überhaupt. Mama, ich hab mir dreimal hintereinander einen runtergeholt. Mama, und dieses Video, das ist von ’nem Jungen, den sie mitgenommen und gefoltert haben. Seinen Leichnam haben sie angezündet und auf die Straße geworfen. Mama, ich will nach Damaskus, wenn ’ne Million Panzer auf den Straßen sind. Mama, ich will mit den Toten und Getöteten zusammen sein. Und eine Katze kaufen. Mama, ich will einen Lebenslauf. Und dass uns ein Krankenwagen vom Friedhof nach Hause bringt.

Somar Almir Mahmoud / Profil privat / 9. Juni 2011:

Wie kommt es eigentlich, dass all unsere Mütter für und all unsere Väter gegen die Revolution sind?

Aboud Saeed / Profil privat / 29. Mai 2012:

Mama, zieh mal richtig lange, zieh, dass dir der Rauch richtig im Herzen spielt. Da zieht sie und lacht glücklich. Mama, sag: Willst du ins Paradies? Sprich mir nach: Scheiß auf die Sunniten, die Schiiten, die Christen, die Drusen, die Juden, die Ungläubigen und die Muslime allesamt. Meine Mutter zögert kurz, ihre Augen sind ganz rot vom Rauch: Mein Sohn, darf man so was sagen? Klar, Mama, darf man, was spricht denn dagegen?

Aboud Saeed / Profil privat / 22. Mai 2012:

Das Kind, das auf der Straße seine Mutter am Saum packt und weint: „Mama, geh nach Hause, geh bitte nach Hause, sonst sterben meine Geschwister dort ganz alleine!“ Dieses Kind bist du.

The Syrian Revolution 2011 /

571.780 Likes / 21. März 2012 / arabischer Muttertag:

In Homs, Baba Amro: Mord an den Kindern Bilal al-Ghantawi und Yahiya al-Ghantawi. Als ihr Vater erschossen wurde, versuchten sie zu fliehen. Als die Assad-Armee auf sie zielte, wurde auch ihr Nachbar angeschossen. Hier die Namen einiger Märtyrer, die hingerichtet wurden, als die Armee und Shabiha-Milizen die Gegend um al-Rafa’i gestürmt haben. Ihre Leichname sind noch im Militärkrankenhaus:

1. Der Märtyrer Khaled al-Ahmad (der Vater)

2. Der Märtyrer Ahd Mohammed Khaled al-Ahmad

3. Der Märtyrer Anas Mohammed Khaled al-Ahmad

4. Der Märtyrer Tareq Mohammad Khaled al-Ahmad

5. Der Märtyrer Abdallah Mohammed Khaled al-Ahmad

6. Die Märtyrerin Binan Mohammed Khaled al-Ahmad, 15 Jahre alt

7. Die Märtyrerin Binan Mohammed Khaled al-Ahmad

8. Der Märtyrer Mohammed Yaser Khattab, 17 Jahre alt

Bashar Al-Assad / 316.000 Likes / 21. März 2012 / arabischer Muttertag:

Alles Gute den Müttern der Helden des antiimperialistischen Widerstands, möge Gott ihnen ein langes Leben schenken. Alles Gute allen syrischen Müttern, alles Gute den Müttern unserer ruhmreichen Märtyrer. Möge Gott die Mutter des Präsidenten Baschar al-Assad und die Frau Mutter des Herrn Hassan Nassrallah [Generalsekretär der Hisbollah] beschützen.

FNN Syria / 110.024 Likes / 10. Dezember 2011 / Video-Post:

Play: Vier bärtige Männer sitzen auf der Bühne eines Saals. Einer wiegt auf seinem Schoß ein Kind. Der Junge wirkt verschreckt.

Ein Mann spricht zu den rund 500 Männern im Publikum:

„Die Mutter dieses Kindes wurde von Baschar Assad getötet.“

Ein Kind ruft in das Mikrofon, das ihm der Mann hinhält:

„Das Volk! Die Hinrichtung! Assad!“

Zustimmendes Raunen im Publikum, einer ruft dem Kind zu:

„Sag Takbir!“

Kind: „Takbir!“

Publikum: „Allahu Akbar!“

Kind: „Takbir!“

Publikum: „Allahu Akbar!“

Mehrmalige Wiederholung der Gebetsformel.

Das Kind, nun lauter:

„Das Volk will die Hinrichtung Assads. Das Volk! Die Hinrichtung! Baschar!“

Das Publikum stimmt ein und schwenkt die Flagge der syrischen Rebellen:

„Das Volk will die Hinrichtung Assads!“

Das Kind, noch lauter:

„Das Volk! Die Hinrichtung! Assad!“

Der Mann unterbricht das Kind:

„Warte mal, mein Schatz. Wie heißt du denn?“

Kind: „Omar.“

Mann: „Wie alt bist du, Omar? Ein, zwei, drei Jahre?“

Omar: „Vier.“ [Transkript eines der zahlreichen Videos, in denen der Junge Omar immer verschiedene Variationen seiner zwei Aufrufe skandiert. Heute ist Omar ein Youtube-Star, seine Videos wurden bislang knapp zwei Millionen Mal angeklickt.]

Übersetzung aus dem Arabischen: Sandra Hetzl