: MitTobago-Feeling
Das Gerhard-Marcks-Haus widmet der Bildhauerin Luise Kimme posthum zum 80. Geburtstag eine Retrospektive und sorgt damit für eine Gelegenheit zur Wiederentdeckung: Außer in ihrer karibischen Wahlheimat ist außer in der karibischen Wahlheimat war die Bremerin nämlich schon zu Lebzeiten in Vergessenheit geraten
Von Jens Fischer
Der erste Eindruck ist nichts anderes als eine Offenbarung – für nach sommerlichem Lebensodem dürstende Seelen. Denn wer eisigen Fußes, den angespannt bibbernden Körper eingemummelt bis zur frostig-blauen Triefnase aus der bitterkalt-dauergrauen Januar-Tristesse hinein ins Marcks-Haus tritt und direkt ins Zentrum der strahlend weißen Ausstellungsräume vorstößt, wird von anthropomorph vital präsenten Figuren in farbenprächtiger Gestaltung empfangen. Mit Lebensfreude umfangen. Sind sie doch aufreizend versunken in tänzerischer Dynamik, schmiegen sich an unhörbare Rhythmen und ihre Hände in Mitklatschgestik wirken, als handele es sich um eine Anbetung der Musik.
Die schwer sympathisch wirkende Gesellschaft afrikanischstämmiger Tobagonier ist aus deutschen Eichenstämmen gehauen, geschabt, geschnitzt und geschmirgelt. Breitschulterig, schlankhalsig, edelnasig, mindestens lebensgroß, fast schon positiv rassistisch idealisierte Skulpturen – in expressiven Moves und Alltagsposen leicht stilisiert. Schönheit und Eleganz der ebenmäßigen Physis wird nach Art eines naiven Realismus gefeiert. Wie kurz mal erstarrt bei einer fröhlichen Party wirkt das Ensemble. Fehlen eigentlich nur noch etwas tropischere Hitze aus der Klimaanlage und Rum im Ausschank: Das Karibik-Feeling wäre perfekt. Ein DJ könnte noch Soca- oder Calypso-Klänge dazu mixen.
Luise Kimme sind all diese Figuren zu verdanken, darunter auch mythologische Wesen wie der Faun und Maria Magdalena. Posthum zum 80. Geburtstag wird der in Bremen geborenen, auf Tobago 2013 einem Krebsleiden erlegenen Bildhauerin die erste Retrospektive unter dem Titel „… angepasste Dinge sieht man genug“ spendiert. Auch weil Beispiele des als verschollen geltenden Frühwerks zusammengetragen werden konnten. Denn präsent sind Kimmes Arbeiten nicht in den großen Kunstsammlungen und Museen der Welt, kaum bis gar nicht beachtet auch in ihrer Heimatstadt: Eine Bodenplastik war 1968 mal in der Bibliothek Vegesack zu sehen und bemalte Reliefs hingen in den 1980er-Jahren im Treppenhaus des Übersee-Museums, das hat der heutige Marcks-Haus-Direktor Arie Hartog recherchiert. Aber alle Versuche Kimmes, dort oder in der Kunsthalle auszustellen, seien zu ihren Lebzeiten am Desinteresse der Institutionen gescheitert. Jetzt also die Entdeckung des Œuvres. Eine kunsthistorische Offenbarung?
Wegmarkierungen ihres Werdeganges zeigt die Schau. Als Kimme im Londoner Büro des Bremer Borgward-Werks jobbte, hätte sie nebenher Zeichenunterricht genommen, wieder daheim an der Weser einen entsprechenden VHS-Kurs absolviert, so Hartog, und sich anschließend erfolgreich bei der Berliner Hochschule für bildende Kunst beworben. Dort lernte sie das Bildhauerhandwerk der 1960er-Jahre, also aus der Figur eine abstrakte Form zu entwickeln. Lehrbeispiele dafür sind im Marcks-Haus zu sehen. Mit einem Stipendium ging es zurück nach London an die St. Martin’s School of Art – dort entfernte sich Kimme dem Zeitgeist gemäß von der traditionellen Bildhauerei hin zur Plastik und experimentiert mit dem damals als letzten heißen Scheiß gehandelten Material Polyester. Goss es in Form und lackierte sie bunt in greller Pop-Art-Manier. Hängte die Objekte an Wände oder stellte sie wie schockgefrostete Flüssigkeiten in den Raum. Die Wülste, Blubbs, Schnörkel, Blasen und Plastiklandschaften sind teilweise schon arg marode, „weil sie 30, 40 Jahre unbeachtet in Garagen herumlagen“, so Hartog.
Als Kimme in den USA Lehrstühle besetzte, widmete sie sich der indigenen Kunst Lateinamerikas – und verabschiedete sich endgültig vom stets nach neuen spektakulären Trends, nicht nach authentischen Ausdrucksformen suchenden Kunstmarkt. Trotzdem nahm sie eine Professur der innovationsfidelen Kunstakademie Düsseldorf an und stellte sich dort Mitte der 1970er-Jahre mit getöpferten Vasen und Tellern vor – die in Gestalt und Verzierung auf Fundstücken aus dem Inkareich verweisen. „Damals waren die Kollegen in Düsseldorf schockiert, qualifizierten die Werke als Folklore ab“, erzählt Hartog.
Gegenliebe fand sie auf Tobago. Erst nur in den Semesterferien, nach der Emeritierung lebte sie ganzjährig dort, baute sich ein Schlösschen und schuf nach Hartogs Schätzung etwa 200 Figuren. Für diese Denkmäler der Inselbewohner entstand ein Museum. Ob die westlichen Kunstdiskurse Luise Kimme wegen ihres konventionellen Frühwerks zurecht ignoriert haben, ob das spätere nur postkoloniale Schwärmerei ist oder ob ihr die idealistische Synthese der Kulturen gelingt, lässt sich nun im Marcks-Haus herauszufinden.
„… angepasste Dinge sieht man genug“: bis 21. April, Gerhard-Marcks-Haus,
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