Dinner For 649

Das britische Unterhaus wurde im Brexit-Jahr 2018 zum Nabel der Welt – jedenfalls für viele Politiker. Die 649 Abgeordneten auf den grünen Bänken und der Speaker auf dem Thron spielen vor, wie Großbritanniens Politik tickt

Foto: UK Parliament

Von Dominic Johnson

Selten hat der Sitzungssaal des britischen Unterhauses so viel Aufmerksamkeit erhalten wie im Brexit-Jahr 2018. Der epische Dauerstreit zwischen Exekutive und Legislative um die Hoheit über den Brexit findet auf und zwischen diesen grünen Bänken statt, die viel zu klein sind für die 650 Abgeordneten.

Das „House of Commons Chamber“ im Londoner Westminster-Palast an der Themse zeigt, warum die britische Politik anders funktioniert als das, was man in der EU für normal hält. Sie ist ein Rollenspiel. Anders als in europäischen Parlamenten sitzt die Regierung immer vom Präsidium aus gesehen rechts – also auf diesem Foto, von der Eingangstür aus aufgenommen, links – und die Opposition sitzt ihr gegenüber. Bei Machtwechseln tauschen die Parteien die Seiten. Die Rechts-Links-Rollenverteilung lautet Regierung gegen Opposition, nicht Rechte gegen Linke. Und wie beim Zeremoniell der Krone folgt das Parlamentsgeschehen strikten Regeln, scheinbar sinnlos, aber mit dem Ziel, immerwährende Ämter vor ihren vergänglichen Inhabern zu schützen. Man stelle sich „Dinner For One“ mit einem herumbrüllenden Chefbutler und 649 ständig wechselnden Tafelgästen an einem Tisch mit zu wenigen Gedecken vor.

Das Theaterspiel hat auch etwas von einem Ritual. Die Sitzordnung ist die der Chorstühle einer Kirche – was der Vorläufer dieses Gebäudes ursprünglich war – und der Unterhauspräsident, der „Speaker“, sitzt oben, throngleich, an der Stelle des Altars. Zwischen den Bänken befindet sich der große zentrale Tisch, der „Table of the House“, auf dem wortwörtlich das Tagesgeschäft auf den Tisch kommt und auf dem jeden Morgen das goldene Parlamentszepter („Mace“) neu abgelegt wird als Zeichen, dass die Kammer legislative Macht besitzt. In den Truhen auf dem Tisch, den „Despatch Boxes“, auf denen sich Theresa May und Jeremy Corbyn aufstützen, wenn sie sich anpflaumen, liegen aktuelle Dokumente.

Das Grundprinzip ist nicht die Volksvertretung, sondern der Debattierklub. Die Opposition soll nicht eine bestimmte Linie vertreten, sondern Gegenargumente zur Regierung liefern, wie bei einem Gerichtsverfahren. Das Für und Wider wird ausgiebig hin- und hergewendet. Die Sternstunden des britischen Parlaments sind nicht die, in denen sich alle einig sind, sondern die, in denen sie sich unerbittlich beharken und ein Psychodrama veranstalten, das in Hinterzimmern und Bars seine Fortsetzung findet.

Beim Brexit sortieren sich Befürworter und Gegner nicht entlang von Regierungs- und Oppositionsbänken. Die Brexit-Fronten verlaufen quer zu den Parteifronten. Theresa Mays hartnäckigste Kritiker sitzen in ihren eigenen Reihen. Das heimliche Gesetz des House of Commons lautet: Dir gegenüber sitzt der Gegner, aber hinter dir lauert der Feind. Sowohl May als auch Corbyn wissen genau, dass die Mehrheit ihrer Fraktion sie hasst. Das macht das Jahr 2018 im Unterhaus so spannend.

2019 dürfte das so bleiben. Ab 7. Januar treten die Abgeordneten zusammen, mit Theresa May an der Macht, aber in der Defensive. Und ob Ende 2019 alle noch auf den gleichen Bänken sitzen wie Ende 2018, weiß niemand.