Vom Meiden und Wünschen der Liebe

Ein Tag in London, der Alltag zweier Menschen, die zueinanderfinden wollen, die soziale Spaltung Großbritanniens: All das erzählt A. L. Kennedy in ihrem Roman „Süßer Ernst“

Man denke zwischendurch mal daran, dass Leute hier auch ihre Ängste und Sorgen und Sehnsüchte spazieren tragen. Die Oxford Street in London Foto: Andrea Artz/laif

Von Carola Ebeling

Exakt 24 Stunden fächert die britische Autorin A. L. Kennedy in ihrem neuen Roman vor uns auf: Ein Tag im Leben von Meg und Jon, die sich durch die Metropole London bewegen – aufeinander zu, zugleich aber scheint eine mächtige Vereitelungskraft ihre Begegnung zu gefährden.

Um 6.42 Uhr beginnt der Tag für Jon – einen hohen Staatsbeamten Ende fünfzig – eher desaströs. Die Rettung eines Vogeljungen fordert ihm alles ab. Über elf Seiten vollzieht sich die Aktion und offenbart viel über den Charakter dieser Figur – und von Kennedys Spezialität, absurde Komik und zarten Ernst dicht nebeneinanderzustellen.

Jon ist ein großer Haderer, unglücklich in seinem Job, in dem er täglich gegen seine Überzeugungen handeln muss, wofür er sich verachtet. Eine gescheiterte Ehe liegt hinter ihm, er ringt um die Zuneigung der erwachsenen Tochter. Ein beharrlicher Selbsthass ist in ihn eingezogen. „O Gott, bin ich ein Arschloch“ ist da noch eine milde Selbstbezichtigung. Und doch: „Nein, ich tue, was ich kann. Ich gebe mein Bestes.“ Nicht nur, um das Geschöpf in seiner Hand zu retten, aber auch hier – und es gelingt ihm. Die Vogelmutter scheint ihn trotzdem auszulachen.

Um 6.42 Uhr beginnt auch Megs Tag. Auch sie, Mitte vierzig, hat sich selbst schon fast verworfen. Sie ist trockene Alkoholikerin, eine bankrotte Buchhalterin, die jetzt in einem Tierheim arbeitet. Aber sie ist seit einem Jahr nüchtern – und fest entschlossen, es zu bleiben. Sich und ihr Leben zu lieben scheint ihr meist zu viel verlangt, aber sie will beides auch nicht aufgeben, keinesfalls.

Verbunden sind Jon und Meg durch Worte. Handgeschriebene „Zuneigungsbekundungen und Respekt wöchentlich geliefert“ hatte Jon per Annonce angeboten, Antworten nicht nötig, aber erlaubt – ein eigenwilliger Weg, seinen im Alltag nicht lebbaren Gefühlen Ausdruck zu geben.

Meg hatte geantwortet und ihn nach vielen Briefen eines Tages bei seinem Postfach geradezu überrumpelt. Volles Risiko. Und nun steht im Raum, was beide doch meiden wollten: eine reale Möglichkeit, eine Liebe. Nach drei ebenso holprigen wie beängstigend schönen Treffen, die Kennedy in Rückblicken entfaltet, wollen sie sich heute um 15 Uhr erneut sehen. Aber immer kommt Jon etwas dazwischen.

Kennedy taktet den Tag mit präzisen Uhrzeiten, springt dabei zwischen den Erlebnissen und Wahrnehmungen ihrer beiden Figuren hin und her. So zwingt ein schmieriger Vorgesetzter Jon um 14.38 Uhr zum Rapport, seine Tochter braucht ihn später als Tröster in ihrem Liebeskummer. Jon will zu Meg, zugleich füllen die Verhinderungen seine Zweifel auf: an seiner Liebenswürdigkeit, an seiner Liebesfähigkeit.

Szenen und Personen leuchten noch lange nach der Lektüre in der Erinnerung auf

Meg hingegen stürzen die Handynachrichten Jons mit den aufschiebenden Entschuldigungen in plötzliche Leerstellen eines anders erhofften Tages. Der Alkohol scheint zu locken. Auch sie ringt mit ihren vielgestaltigen Ängsten, angedeutet wird eine gewaltvolle Beziehung, die sie hinter sich gelassen und die doch viel Vertrauen zerstört hat. „Ich wollte mich von dem festen und sicheren Glauben lösen, dass Berührung tödlich ist und Freundlichkeit der Versuch, heimlich zu nehmen.“

Das Meiden und zugleich sehnliche Wünschen der Liebe ist eines der großen Themen Kennedys. Schon in ihrem hierzulande 2004 erschienenen Roman „Also bin ich froh“ ist das der Kern. Doch war in der fantastischen Idee, Cyrano de Bergerac auferstehen zu lassen, die Unmöglichkeit seiner Liebe zur Gefühlsverweigerin Jennifer gleich angelegt: Er muss die Gegenwart schließlich doch endgültig verlassen.

Auch in ihren Erzählungen gibt es viele Gründe, der Liebe skeptisch gegenüberzustehen. Doch immer steht dieser Skepsis und Kennedys präzisem Blick auf die Deformationen der Liebe eine ebenso emphatische Bejahung zur Seite. In „Süßer Ernst“ darf sich Letztere nun durchsetzen: Süß und ernst zugleich ist für Kennedy jene Liebe, die den*die andere wirklich wahrnimmt, die Verletzungen sieht und ernst nimmt; die füreinander Gutes will. Meg und Jon werden das wagen.

Kennedy kontrastiert ihre beiden versehrten Figuren, deren Wunsch nach Freundlichkeit und Respekt scharf mit einem weithin wirksamen gesellschaftlichen Konsens, wonach dieser grundlegende Anspruch wenig oder nichts zählt. Die Autorin, die sich auch oft in politischen Artikeln äußert, holt die Verfasstheit ihres Landes nun in ihre Literatur.

So lässt sie Jon, seines Zeichens politischer Berater, an einer Haltung verzweifeln, welche jene, die keine sogenannten Leistungsträger sind – die arm oder krank sind –, verachtet und sie in ein System zwingt, das ihnen als Gier auslegt, was ihnen zusteht: ein weit verbreitetes „Interpretationsmodell“, wonach „permanentes Fehlverhalten und Anspruchsdenken der gewieft Machtlosen“ Ursache vieler Übel sind. Kennedy benennt die sozialen Verwerfungen, die in ihrer Heimat noch um einiges schärfer sind als hierzulande, deutlich.

Trauriges Symbol dafür sind seit 2017 die Ruinen des Londoner Grenfell Tower, bei dem verheerenden Brand starben 81 Bewohner*innen. Der Roman erschien im Original ein Jahr zuvor. Auch vom Brexit und dessen Folgen konnte Kennedy so noch nichts wissen, sie skizziert aber die politische Kultur, die diesen Geschehnissen den Weg bereitete. In zahlreichen Passagen erläutert Jon mit teils bitterer Ironie das herrschende politische Prinzip, „nichts über absolut gar nichts zu wissen“. Altmodischerweise setzt er immer noch auf Fakten. Und Kennedy greift auch das Versagen von Behörden, Polizei und Politikern angesichts des systematischen sexuellen Missbrauchs von mehr als 1.400 Kindern und Jugendlichen auf.

Schafft Magie mit ihren Erzählungen und Romanen: A. L. Kennedy Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Nun zählt es zu den Stärken der Autorin, ihre Figuren so lebendig erscheinen zu lassen, dass Szenen und Personen noch lange Zeit nach der Lektüre in der Erinnerung aufleuchten. In ihren Essays – nachzulesen in dem Band „Schreiben“ – bezeichnet sie es als Magie, wenn es Schriftsteller*innen gelingt, ihre Leser*innen an „Menschen glauben zu lassen, die nie existiert haben“. Sie schildert dort auch ihre heftigen Selbstzweifel diesbezüglich. Doch auch in ihrem neuen Buch wirkt diese Magie!

Dazu tragen die kursiv gesetzten, ganz subjektiven Wahrnehmungen und Gedanken ihrer Protagonist*innen bei. So schaut die Autorin in deren Inneres, so offenbaren sie sich, auch in ihren entblößenden Schwächen – die für Kennedy existenziell menschlich, ja wertvoll sind. Dabei kann sie absurd oder auch derb komisch und ironisch sein; und zart und anrührend.

Nur manchmal wirkt Jon etwas überladen mit den politischen Reflexionen, die Kennedy fast ausschließlich ihm überlässt. Doch zugleich hat sie mit ihm eine männliche Figur entworfen, die gängige Männlichkeitsbilder hinterfragt und unterläuft – ein Anliegen, das sie bereits in ihrem letzten Erzählband „Der letzte Schrei“ forciert hat. Während die Männer dort nur ahnen, woran sie leiden könnten, geht Kennedy auch hier einen Schritt weiter. In ihrem opulenten Roman traut sie sich einen zuweilen wundersam anmutenden Optimismus. Trotz allem.

Der durchweht auch die Miniaturen, Szenen des Londoner Großstadtlebens, die in die Erzählung eingewoben sind. Es sind genaue und zugewandte Beschreibungen meist zufälliger Begegnungen ganz unterschiedlicher Menschen. Ihnen liegt ein Blick zugrunde, der offen ist für „Ereignisse, Momente, Geschenke“, die wertvoll sind, an die man sich erinnern, von denen man zehren kann.

A. L. Kennedy: „Süßer Ernst“. Aus dem Engl. von I. Herzke und S. Höbel. Hanser, München 2018, 560 Seiten. 28 Euro