„Das kann ich tun: reden, reden, reden“

„Tagesthemen“-Moderatorin Anne Will lernt den Südsudan kennen, und der Südsudan lernt, was eine Fernsehmoderatorin ist. Eindrücke von einer Reise der Sonderbotschafterin der Hilfsaktion „Gemeinsam für Afrika“ in Afrikas ärmstem Krisengebiet

Keines der Kinder hat je einen Fernseher gesehen. Willkommen im Südsudan

AUS MARIDI MARC ENGELHARDT

Für Anne Will ist es ein unerwartetes Problem. Hunderte Schulkinder haben eben noch für die „Tagesthema“-Frontfrau gesungen, jetzt ist sie dran. „Ich bin Moderatorin, ich präsentiere die Nachrichten im deutschen Fernsehen“, sagt Anne Will. Höflicher Applaus. Keines der 1.000 Kinder, die sich in der Volksschule von Maridi drängeln, hat zu Hause einen Fernseher. Niemand kennt jemanden, der einen Fernseher hat, oder hat auch nur jemals einen gesehen. Willkommen im Südsudan, dem Land ohne Strom, Straßen, Telefon und Fernsehen.

Anne Will ist mit einer Propellermaschine aus Nairobi gekommen. Seit einem guten Jahr ist sie Kampagnenbotschafterin der Aktion „Gemeinsam für Afrika“, einem Bündnis 33 deutscher Hilfswerke; jetzt endlich will sie die Probleme des Kontinents selbst sehen. Wo immer sie auftaucht, gibt es ein Fest: Ihre sudanesischen Gastgeber wissen, dass sie in Deutschland jeder kennt. Doch wenn der offizielle Auftakt vorbei ist, gehen das Kamerateam und Will schnell getrennte Wege. Die Moderatorin spricht mit Kindern, Lehrern, Ärzten, Geistlichen und Helfern, sie will alles wissen. Sie lacht, ist empört und manchmal auch schockiert.

Der 21-jährige Benti zum Beispiel besucht hier zum ersten Mal eine Schule. Als er zwölf war, nahmen Soldaten der Rebellenbewegung SPLA (Sudanesische Volksbefreiungsarmee) ihn mit. Er war der älteste von vier Söhnen, es gab kein Entrinnen. Jahrelang hat er gekämpft und Menschen erschossen, berichtet er im sachlichen Tonfall. Dann trat er auf eine Landmine und verlor sein rechtes Bein. Seit Januar ist der Krieg im Südsudan vorbei, die SPLA hat sich Autonomie für die Region erkämpft. Jetzt braucht Benti eine Ausbildung für das Leben danach.

Ein anderer Junge beschwert sich, weil er besser Englisch spricht als seine Lehrer. Seine Familie ist gerade erst aus einem Flüchtlingslager in Uganda zurückgekehrt. Die wenigen Lehrer in Maridi sprechen vor allem Arabisch. Schulbänke gibt es auch nicht, der Truck aus Uganda hängt seit sechs Wochen auf den Schlammpisten fest. Und auch Schulbücher sind Mangelware.

Jetzt haben die Helfer von CARE die ersten gedruckt, in denen auch erklärt wird, welche traditionellen Riten es gibt und wie man sich ordentlich wäscht. Anne Will darf sie verteilen. Die Zurückhaltung der Schüler nimmt ein abruptes Ende: Begeistert stürzen sie sich auf Englisch-, Wissenschafts- und Sozialkundeschwarten. Die Kinder seien heiß auf Bildung, sagt Will später. Das habe sie in diesem Moment gelernt.

Rumbek, die provisorische Hauptstadt des SPLA-regierten „neuen Sudan“, wirkt im Vergleich zu Maridi wie eine andere Welt. Es gibt eine Straße, es gibt Häuser, Baustellen und jede Menge Hilfsorganisationen. Andreas aus Lippstadt versorgt die Helfer mit Unterkunft und kaltem Bier. Nur eine Minute von Rumbeks Landepiste entfernt, verwaltet er 400 Großzelte, jeden Tag kommen ein paar neue dazu. In jedem Zelt gibt es eine Dusche – im restlichen Rumbek insgesamt vielleicht noch mal fünf. Also wohnen die Helfer am liebsten im Zelt. Um arbeiten zu dürfen, warten sie auf Genehmigungen der SPLA, was ziemlich lange dauern kann.

In der Krankenstation, die die Deutsche Tuberkulose- und Leprahilfe gemeinsam mit den Maltesern aufgebaut hat, überzieht Anne Will ihren Zeitplan. Sie spricht mit Adak Manyang, einer unter 150 Tuberkulose-Patienten, die ein halbes Jahr lang in einer mit Betten vollgestellten Halle behandelt werden müssen. Die 22-jährige dreifache Mutter hält ihre einmonatige Tochter im Arm. Weil der Husten der beiden nicht besser wurde, marschierte Manyang tagelang zu Fuß zur Klinik. Will spricht mit einer Lepra-Patientin, die mitten in der Behandlung aus dem Krankenhaus zu einem Wunderheiler floh. Nach einem Jahr kam sie zurück, mit schweren Verletzungen. Will hält die Hand von Nelson Monday aus Uganda, der Aids hat und bald sterben wird.

Südsudan braucht Ärzte und Krankenhäuser, erklärt ihr Chefarzt Joseph Lonkenyi. Im Südsudan gibt es sechs Millionen Einwohner – und zehn einheimische Mediziner.

Anne Will ist das erste Mal in Afrika. Abends erzählt sie Ulrich Wickert und seinen „Tagesthemen“-Zuschauern mit Begeisterung davon. „Das ist ja auch das, was ich als Kampagnenbotschafterin tun kann“, sagt sie später. „Reden, reden, reden und für kluge Entwicklungshilfe werben.“

Die Moderatorin spricht mit Kindern, Lehrern, Ärzten,sie will alles wissen

Letzte Station der Reise ist Tonj, eine Ansammlung von Hütten tief im Busch im Land der Dinka. In der Don-Bosco-Volksschule sind 800 Schüler zum SPLA-Fahnenappell angetreten, viele davon ehemalige Kindersoldaten. Ein Jugendlicher brüllt Befehle: Stillgestanden, rechts um, kehrt – auch die Jüngsten folgen den Befehlen routiniert. Die neue Flagge wird gegrüßt, es wird gebetet. Das ist Südsudan nach mehr als 20 Jahren Krieg.

Salesianer-Pater James erzählt Will, warum er die SPLA bis heute fürchtet. Eines Morgens, es war im Krieg, verschleppten die Rebellen den Inder aus dem von ihm geleiteten Krankenhaus. Mehr als 1.500 Kilometer musste er laufen, sagt er leise, bis in ein Lager in Äthiopien. Als nach anderthalb Jahren das Lösegeld kam, konnte der Pater gehen, wohin er wollte. Er ging zurück nach Tonj. „Ich habe das Hospital seitdem nicht mehr verlassen. Ich bin sicher, wenn ich auch nur wenige Tage weg bin, räumen die Soldaten das ganze Haus aus.“

Sein Peiniger von damals ist noch immer SPLA-Kommandeur in Tonj. Eines Tages habe der sich flüsternd erkundigt, ob James sich nicht rächen wolle. Doch das will er nicht.

Als die Reise endet, hat Anne Will dazugelernt. Sie zeigt auf die Kamera, die die staunende Menge rund um die Flugpiste filmt. Das, sagt sie, ist eine Kamera, und ich sitze davor und lese die Nachrichten im Fernsehen. „Fernsehen?“, unterbricht der Übersetzer sie. „Dafür gibt es in der Dinka-Sprache kein Wort.“