Dem Altruismus auf der Spur: Zu deinem Wohle
Warum riskieren manche Menschen ihr Leben für andere? Die Wissenschaft gibt Einblicke in außergewöhnliche Gehirne.
Als es passiert, ist es dunkel. Eine junge Frau versucht, mit ihrem Auto einem Hund auszuweichen – sie trifft ihn trotzdem. Das Auto schlingert, beginnt sich zu drehen, kommt falsch herum auf der linken Spur der Autobahn zum Stehen. Dann geht der Motor aus. Die junge Frau ist sich sicher, dass sie sterben wird. Doch da kommt die Rettung. Ein Mann hält geistesgegenwärtig an, rennt über die vier Spuren der Autobahn und hilft ihr, das Auto wieder in Gang zu bringen. Kaum ist die Frau in Sicherheit, verschwindet ihr Retter, bevor sie überhaupt nach seinem Namen fragen oder sich bedanken kann.
Was hat den Mann bewogen, sein eigenes Leben zu riskieren, um einer Fremden zu helfen? Diese Frage beschäftigt die Sozialpsychologin Abigail Marsh seit ihrem 19. Lebensjahr – sie war die Frau im Auto. Mittlerweile ist sie Privatdozentin und Wissenschaftlerin an der Georgetown University in Washington, D.C., wo sie nach dem Ursprung des Altruismus sucht.
Was genau das eigentlich ist, diskutieren noch immer Philosophen und Naturwissenschaftler. Abigail Marsh beschreibt es als freiwillige, kostspielige Handlung, die einem anderen Individuum helfen soll. Anders gesagt: Man möchte jemandem helfen, obwohl das für einen selbst Nachteile haben kann. Das kann Lebensgefahr sein, aber auch Geldverlust im Falle von Spenden, oder man kommt zu spät zur Arbeit, weil man einem gestrandeten Fahrradfahrer hilft, seinen platten Reifen zu flicken.
Man kann noch weiter gehen und verschiedene Formen des Altruismus definieren: Zum Beispiel ist es nicht unbedingt dasselbe, ob man etwas spendet oder ob man sich öffentlich gegen Diskriminierung ausspricht. Auch altruistische Bestrafung gehört dazu, wenn sich jemand entgegen der sozialen Norm verhält.
Bei der Frage, was altruistische Menschen von anderen unterscheidet, wollen wir uns jedoch auf die allgemeine Definition von Abigail Marsh beschränken. Sie wollte herausfinden, ob die Gehirne von besonderen Altruisten sich von anderen unterscheiden. Dazu untersuchte sie Menschen, die eine ihrer Nieren gespendet hatten, um einem Fremden zu helfen – zweifellos eine außerordentlich altruistische Tat. Und tatsächlich fanden Marsh und ihre Kollegen heraus, dass die Amygdala (der Mandelkern) der Altruisten größer war als bei den Kontrollpersonen.
Angst und Stress
Diese Gehirnregion ist vor allem dafür bekannt, dass sie Gefühle vermittelt und reguliert, insbesondere negative wie Angst und Stress. Dazu gehört, Angst im Gesicht eines anderen Menschen zu erkennen. Genau das konnten die Altruisten besonders gut, im Gegensatz zu Psychopathen – die zudem eine verkleinerte Amygdala vorweisen.
Wie untersucht man Altruismus, wenn man gerade keine Nierenspender zur Verfügung hat? Ein internationales Team um Indrajeet Patil von der Harvard University in Massachusetts kreierte dafür eigens eine detaillierte virtuelle Umgebung. So konnten die Wissenschaftler in die Gehirne von Menschen sehen, die ihr Leben für andere riskieren. Auch sie fanden Veränderungen in der Struktur, allerdings in einem anderen Bereich, der vorderen Inselrinde. Den großen Nachteil der Studie erwähnen die Autoren selbst: Es ist alles nur ein gespieltes Szenario. Egal, wie realitätsnah die Grafik gestaltet ist, die Probanden wissen genau, dass es nicht die Wirklichkeit ist. Für zukünftige Studien schlagen sie daher vor, tatsächliche Helden zu untersuchen, die ihr Leben für jemanden riskiert haben.
Es gibt jedoch noch andere Möglichkeiten, Altruismus zu ergründen. Beispielsweise mit Tests, in denen die Probanden Geld verwalten müssen und dabei auch spenden dürfen. Kanadische Wissenschaftler zeigten so, dass ältere Menschen insgesamt altruistischer handeln als junge. Das war keine Neuigkeit, frühere Studien hatten es bereits herausgefunden. Doch die Kanadier waren vor allem daran interessiert, inwiefern Stress die Selbstlosigkeit beeinflusst.
In der Realität ist Altruismus oft mit schnellen Entscheidungen verbunden – würde das die Reaktionen verändern? Teilweise, zeigt die Studie. Ältere Menschen mit einem Durchschnittsalter von 70 Jahren zeigten genauso viel altruistisches Verhalten unter Stress wie ohne. Bei jüngeren Menschen von etwa 20 Jahren hingegen spielte es eine Rolle. Sie handelten deutlich großzügiger, wenn sie gestresst waren. Anscheinend eine Art, die negativen Konsequenzen einer stressigen Situation auszugleichen, vermuten die Autoren.
Auch ohne Stress gibt es äußere Faktoren, die uns dazu bringen, sozialer zu handeln. Der „Watching Eye Effect“ besagt, dass man altruistischer agiert, wenn man sich beobachtet fühlt. Dabei muss nicht einmal ein Mensch zugegen sein. Selbst aufgemalte Augen können dazu führen, dass mehr Geld in einer Spendendose landet, wie eine Studie an der University of Virgina zeigt. Andere Gesichtsausschnitte wie Nase oder Mund konnten keinen solchen Effekt erzielen.
Am Fuße des Berges
Und wem helfen wir am liebsten? Das kann man sich leicht vorstellen: Die Menschen können sich am ehesten in diejenigen einfühlen, die ihnen nahestehen. Familie, Freunde, Bekannte, je weiter sich die Menschen vom eigenen Zentrum entfernen, desto schwieriger wird es. Abigail Marsh beschreibt es als einen Berg. Man selbst an der Spitze ist sich am wichtigsten, und am Fuß des Berges sind diejenigen, die man weder kennt, noch wirklich wahrnimmt. „Bei besonders altruistische Menschen scheint der Berg nicht so steil zu sein. Ihnen ist ihr innerer Kreis zwar wichtiger, aber auch mit allen anderen Menschen fühlen sie stärker“, erklärt Marsh.
Das Mitfühlen mit dem Gegenüber ist also ein tragender Punkt in der Frage, ob wir helfen. Damit geht einher, dass man großzügiger ist, wenn man eine Person identifizieren kann. Hat man beispielsweise das Bild eines kranken Kindes vor Augen, ist man eher bereit zu spenden, als wenn man gesagt bekommt, dass Tausende Kinder an der Krankheit leiden.
Die meisten wissen nicht, ob sie Altruisten sind. Ja, gerade um Weihnachten und Neujahr herum spendet man mal etwas an eine gemeinnützige Organisation. Aber wie weit würde man gehen, um einem anderen Menschen zu helfen? Das kann man erst wissen, wenn man in eine solche Situation kommt. Wer sich jetzt jedoch zurück lehnt und denkt, „Ist doch sowieso in meinem Gehirn festgelegt“, der täuscht sich. „Das Gehirn verändert sich jedes Mal, wenn wir etwas lernen“, sagt Abigail Marsh. „Und Mitgefühl kann man lernen. Würde jeder das wollen? Vielleicht nicht. Aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass die Menschen auf der ganzen Welt altruistischer werden.“
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