Emotionen statt Fakten

Die Argumente der Gegner eines türkischen EU-Beitritts auch in der CDU entbehren oft der Grundlage. Der Prozess der Säkularisierung der Türkei ist älter, als oft behauptet wird

Erste Schritte zur Säkularisierung ging die Türkei bereits in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts

Für den EU-Beitritt der Türkei hätte es in diesem Jahr nicht schlimmer kommen können. Die sich gegenwärtig abzeichnenden Kräfteverhältnisse in der EU werden mit Sicherheit dazu führen, dass die Türkei den Wartesaal in absehbarer Zeit nicht verlassen wird: In Deutschland lassen die – nach Lage der Dinge künftigen Regierungsparteien – Union und FDP – keine Gelegenheit aus, um ihre Ablehnung einer weiteren EU-Erweiterung zu bekunden. Und das doppelte Nein der Franzosen und Niederländer zur EU-Verfassung wird nicht nur von Frankreichs Innenminister Sarkozy als klares Votum für die Aussetzung der Erweiterungspläne interpretiert.

Die Gründe, die zu dieser Entwicklung geführt haben, sind nicht zuletzt einer außerordentlich emotional geführten Debatte geschuldet. Immer wieder haben es die Erweiterungsgegner in den vergangenen Jahren vorzüglich verstanden, die Türkei als nicht beitrittsfähigen Kandidaten an den Pranger zu stellen. Das Sündenregister, das der kemalistischen Republik vorgehalten wird, ist lang. So wurde argumentiert, die Türkei sei ein Land wirtschaftlicher Rückständigkeit geblieben, das gerade mal 20 Prozent des durchschnittlichen europäischen Bruttosozialprodukts erwirtschafte. Eifrig kritisiert wurde ferner, dass fast ein Drittel der Beschäftigten in einer teilweise archaisch anmutenden Landwirtschaft ihr Auskommen finden müsste. Als ganz gravierend angesehen wurde auch das sich angeblich abzeichnende riesige Migrationsproblem. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei seien so schlecht, dass nach einem EU-Beitritt eine Wanderungswelle mit mehr als 10 Millionen verarmten Anatoliern das wohlgehütete europäische Haus erfassen könnte.

Einige dieser durchaus rationalen Gründe sind sicherlich nicht so einfach von der Hand zu weisen und hätten eine konstruktive und sachliche Debatte verdient. Doch dazu kam es nicht, da die Debatte seit einigen Jahren von zahlreichen Beitrittsgegnern als eine Art Kulturkampf geführt wird, in dem nichts Geringeres als das große humanistische Erbe des Abendlandes zu verteidigen ist. So war gebetsmühlenartig zu hören, die Türkei gehöre nicht nach Europa, da sie nicht Bestandteil des „historischen“ Europa gewesen sei. Als hochproblematisch und inkompatibel mit den europäischen Zivilgesellschaften gilt den Beitrittsgegnern auch das islamische Erbe. Es habe keine innerislamische Aufklärung oder Reformation gegeben – so der zentrale Vorwurf. Folglich hätten auch keine Säkularisierung, eine darauf aufbauende Gewaltenteilung und schließlich eine pluralistische Demokratie entstehen können. All diese segensreichen Prozesse, die in Europa sich über Jahrhunderte vollzogen hätten, seien in der Türkei erst im 20. Jahrhundert mit Gewalt durchgesetzt worden. Diese fragwürdige und kulturalistische Argumentation beruht auf einer verkürzten und bewusst eklektizistischen Geschichtsauffassung. Mehrfach wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Säkularisierung – mit dem Ergebnis der Gewaltenteilung und des Pluralismus – wohl kaum als ein gesamteuropäisches und gleichzeitiges Phänomen dargestellt werden kann. Wer so argumentiert, unterschlägt unter anderem dass bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts katholisch geprägte Militärdiktaturen in Spanien und Portugal ihr Unwesen trieben.

Auch die pauschale Abqualifizierung des Wegs der Türkei nach Westeuropa kann sich nicht auf abgesicherte historische Fakten berufen, denn diese – und dies ist bislang in der Debatte kaum berücksichtigt worden – sprechen überaus klar eine andere Sprache. Bereits ein kurzer Blick auf die osmanische Geschichte des 19. Jahrhunderts ist in diesem Kontext sehr aufschlussreich: Erste Schritte zur Säkularisierung wurden in der Türkei bzw. dem damaligen Osmanischen Reich bereits in den ausgehenden 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts in die Wege geleitet. Das Osmanische Reich hatte zum damaligen Zeitpunkt erhebliche Gebietsverluste hinnehmen müssen und war in vielfacher Hinsicht den europäischen Großmächten hoffnungslos unterlegen. Eine grundlegende Neuordnung des Reiches und die Beseitigung obsoleter ökonomischer und soziokultureller Strukturen waren unumgänglich. Erste grundlegende Reformmaßnahmen die den Namen Tanzimat-i Hayriye (Heilsame Neuordnung) erhielten, wurden mit dem Reformdekret von Gülhane 1839 verkündet. Es verkündete unter anderem die Sicherheit des Lebens, die Einführung einer gerechten Rechtsprechung und die Gleichheit für die Anhänger aller Religionsgemeinschaften, wobei auch die bislang diskriminierten Nichtmuslime ohne Einschränkung osmanische Staatsbürger sein sollten. Weitere Reformschritte, in denen durchaus die Grundzüge einer freiheitlich bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu erkennen sind, wurden mit einem weiteren Dekret 1856 verkündet. Neben der Bekräftigung der bereits proklamierten Reformen wurde nun den Nichtmuslimen die uneingeschränkte Religionsfreiheit zugebilligt. Als weitere weitreichende Reformaßnahme wurde für die Rechtsfindungspraxis ein striktes Folterverbot erlassen.

Als Höhepunkt der immerhin vier Dekaden umfassenden Tanzimat-Reformperiode, die in den Debattenbeiträgen der Beitrittsgegner systematisch unterschlagen wird, ist die Verabschiedung der Osmanischen Verfassung im Jahr 1876 anzusehen. Die neue Verfassung, die das Symbol des Kalifats und das dynastische Prinzip des Sultanats innovativ mit den europäischen Ideen von Nationalstaat und bürgerlichen Freiheiten zu verbinden suchte und nach belgischem Vorbild die Einführung eines halbdemokratischen Zweikammersystems mit Senat und Abgeordnetenhaus vorsah, enthält auch aus heutiger Sicht einige Artikel, die durchaus auch in modernen säkularen Verfassungen zu finden sind. So wird in Art. 8 bis 10 allen Menschen unabhängig von ihrer Religion die osmanische Staatsbürgerschaft zugesprochen. Art. 17–19 stellen die Rechtsgleicheit aller Bürger fest. Und Art. 26 enthält schließlich ein unmissverständliches Folterverbot: „Die Folter und alle übrigen Arten der Tortur sind unbedingt und in ihrer Gänze verboten.“

Das Sündenregister, das der kemalistischen Republik vorgehalten wird, ist lang

Vor dem Hintergrund dieser Verfassungsartikel und der jahrzehntelangen Reformanstrengungen in der so genannten Tanzimat-Periode, die erstmalig in einem islamischen Land zur Gleichstellung der Angehörigen aller Religionsgemeinschaften führte, muss die These einer verspäteten und gewaltförmigen Säkularisierung der Türkei, wie sie z. B. von den bekannten Historikern Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler vertreten werden, entschieden zurückgewiesen werden. Auch wenn die Reformanstrengungen in den darauf folgenden Jahrzehnten nicht zu den gewünschten Ergebnissen führten, da Sultan Abdülhamit II. im Jahr 1878 zur absoluten Alleinherrschaft zurückkehrte, bleibt dennoch das historische Faktum, dass die Türkei sich schon viel länger auf dem Weg nach Europa befindet, als dies gegenwärtig die Beitrittsgegner wahrhaben wollen.

MICHAEL KIEFER