piwik no script img

„Gemeinsames Lernen hat Erfolg“

Schulentwicklungsforscher Johannes Bastian hat das Pilotprojekt zu Berliner Gemeinschaftsschulen wissenschaftlich begleitet. Was bedeuten seine Erkenntnisse für andere Bundesländer?

Interview Kaija Kutter

taz: Herr Bastian, Sie haben 18 Berliner Gemeinschaftsschulen wissenschaftlich begleitet. Ihr Fazit: Gemeinsames Lernen …?

Johannes Bastian: Gemeinsames Lernen hat Erfolg.

Sie trugen die Ergebnisse Anfang November in Hamburg vor. Warum?

Der mögliche Erfolg des gemeinsamen Lernens wird immer noch infrage gestellt, weil es nicht zum Erfahrungsraum vieler Eltern gehört.

Wie sind diese Gemeinschaftsschulen entstanden?

Diese Schulen waren ehemals vorwiegend Hauptschulen oder Realschulen und sind gestartet, als es das viergliedrige Schulsystem noch gab. Kurz davor gab es den berühmten Brandbrief der Rütli-Schule. Dies ist eine Schule, die ich kennen gelernt habe als eine Haupt- und Realschule mit einer Mauer auf dem Schulhof, die die Schüler voneinander separierte. Heute ist der Campus Rütli eine erfolgreiche Gemeinschaftsschule.

Was bedeutet erfolgreich?

Das haben wir in zwei Teilstudien untersucht. In der einen, die ich zusammen mit Dagmar Killus und Ramböll Management verantworte, fragen wir mithilfe von standardisierten Instrumenten nach der Entwicklung eines Unterrichts, der für heterogene Lerngruppen geeignet ist. Die zweite Teilstudie, die Ulrich Vieluf und sein Team verantworten, untersucht mithilfe von standardisierten Tests die Lernentwicklungen von Schülern.

Und wie fielen die aus?

Das ist der Part, den der Kollege Vieluf sehr genau beschreiben kann, mit erstaunlichen Ergebnissen. Die Lernentwicklung der Schüler wurde im Verlauf der Sekundarstufe I in den fünf Bereichen Leseverständnis, Orthografie, Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften gemessen. Die Lernzuwächse waren hoch und lagen deutlich oberhalb der Lernzuwächse einer Kontrollgruppe des gegliederten Schulwesens. Dabei gab es im Verlauf des Schulversuchs eine Steigerung der Lernerfolge, besonders bei Schülern mit niedrigem Sozialstatus.

Von Gesamtschulen las man das schon häufiger. Warum ist dies 2018 wichtig?

In Berlin gibt es in einem Schulversuch die konsequenteste Form der Umsetzung dessen, was man bundesweit mit Gemeinschaftsschulen bezeichnet. Das lässt sich mit den folgenden Merkmalen beschreiben: stufenübergreifendes Lernen von Jahrgang 1 bis 10 beziehungsweise 13. Verzicht auf äußere Leistungsdifferenzierung (Einteilung der Klasse in Gruppen je nach Leistungsniveau, Anm. d. Red.) und auf Leistungsbewertung durch Noten bis einschließlich Jahrgang 8. Zu Anfang war es völlig offen, ob es den Schulen gelingen würde, die Vielfalt der Schülerschaft zu akzeptieren, differenzierende Lernformen zu entwickeln und gute Lernfortschritte zu erreichen.

Was ist das Geheimnis des Erfolgs?

In Berlin gab es eine Art Pakt. Die Schulen mussten sich bewerben. Sie mussten ein Konzept vorlegen und eine Zweidrittelmehrheit in der Schulkonferenz für die Teilnahme am Schulversuch erreichen. Die Schulen mussten also sagen: Wir wollen Gemeinschaftsschule werden und wir können das begründen. Der zweite Teil dieses Pakts war, dass die Bildungspolitik ganz klar gesagt hat, auch wir wollen Schulen des gemeinsamen Lernens. Und wir wollen dazu beitragen, dass das gelingt. Ein dritter Punkt ist, dass Gemeinschaftsschulen Lerngemeinschaften sind, und zwar auf drei Ebenen. Unter den Schülern, unter den Lehrkräften und auch im Netzwerk der beteiligten Schulen. Ganz wichtig ist dabei: Die von uns befragten Schüler haben gesagt: Die Lehrer interessieren sich dafür, was ich kann und was ich noch nicht so gut kann, und dann reden wir gemeinsam darüber. Die Schüler spüren: meine Lehrer haben ein Interesse für mich als Individuum beim Lernen.

Heißt das: Politik kann gemeinsames Lernen nicht anordnen?

Es gibt in Berlin beides. Für die Gemeinschaftsschule musste und muss man sich bewerben. Und es gab kurz danach die Umstellung auf die Integrierten Sekundarschulen, die zweite Säule neben dem Gymnasium.

In Hamburg die Stadtteilschule und in Bremen die Oberschule.

Genau. Darüber, wie erfolgreich die Sekundarschulen in Berlin sind, habe ich keine Information. Wir können sagen: Wenn die Schulen sich bewerben, wenn sie diese Form des Lernens wollen und die Bildungspolitik dazukommt und sagt, wir wollen das auch, sind das wichtige Voraussetzungen für das Gelingen einer Schule des gemeinsamen Lernens.

Verändert das gemeinsame Lernen auch den Unterricht?

JohannesBastianist Professor (i. R.) für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Schulentwicklungsforschung an der Universität Hamburg. Er leitet die Redaktion der Zeitschrift Pädagogik.

Zum einen ist der Unterricht heute durch ein hohes Maß an Individualisierung und Selbstregulation geprägt und gleichzeitig durch ein hohes Maß an Unterstützung durch die Lehrkräfte. Darüber hinaus haben wir unter anderem festgestellt, dass „dahinter“ verschiedene Muster des Lehrerhandels liegen. Knapp 70 Prozent eröffnen mittlere bis große Spielräume für selbst reguliertes Lernen bei gleichzeitiger Unterstützung. Etwa 30 Prozent führen den Unterricht eher eng. Uns hat dann interessiert, ob Gemeinschaftsschulen große und mittlere Spielräume nur an Schulen eröffnen, die in einem Umfeld mit geringer Belastung liegen. Im Ergebnis bildet sich das so nicht ab. Es gibt Gemeinschaftsschulen, die einen hohen Belastungsindex haben und dennoch mittlere bis große Spielräume für selbst reguliertes Lernen eröffnen und umgekehrt. Gemeinschaftsschulen in Berlin bestätigen also nicht die Annahme, dass selbst regulierter Unterricht nur in Schulen mit geringer Belastung und einem hohen Sozialindex möglich ist. Ein so geöffneter Unterricht wäre demnach nicht etwas, was nur mit Schülern der Mittelschicht möglich ist, die vom Elternhaus darauf vorbereitet sind.

Welche Vorteile hat dieser Unterricht für die Schülerinnen und Schüler?

Ein solcher Unterricht bietet gute Voraussetzungen dafür, dass der Lehrer Zeit und Raum hat, sich dem einzelnen Schüler zuzuwenden. Die Spielräume des Lehrers, mit den einzelnen Schülern fördernd zu arbeiten, ergeben sich unter anderem daraus, dass er nicht die meiste Zeit vorne steht und redet. Im Übrigen wissen wir aus der Unterrichtsforschung, dass eigenständiges Lernen gekoppelt mit guter Unterstützung durch Lehrer und Mitschüler eine starke Lernwirksamkeit aufweist.

Deshalb erarbeiten sich Lehrer, die mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler zu tun haben, Zeiträume, in denen sie mit Schülern darüber sprechen können, was diese erarbeitet haben. Nur dann gibt es dieses Gefühl, von dem ich sprach: Der Lehrer will wissen, was ich verstanden habe und was nicht, und dann reden wir darüber.

Was können andere Städte von Berlin lernen?

Wir wissen jetzt, dass und wie sich Schulen des gemeinsamen Lernen entwickeln können und was diese Schulen erfolgreich gemacht hat. Wenn nun Hamburger Schulen fragen, was sie daraus lernen können, dann können wir das nicht direkt ableiten. Interessierte Schulen aber können die Ergebnisse diskutieren und gemeinsam überlegen, was davon für sie bedeutsam ist. Es gibt also keine Blaupause. Es gibt aber benennbare Faktoren, die diese Schulen erfolgreich machen. Von einigen Hamburger Schulen wissen wir, dass sie die Berliner Schulen in ihrem Entwicklungsprozess beraten haben. Und dennoch haben sie in der eingangs genannten Veranstaltung intensiv diskutiert, welche Erfahrungen der Gemeinschaftsschulen für sie als Stadtteilschulen bedeutsam sind.

Die „Schule für alle“-Bewegung erlebt zurzeit Rückschläge. Muss man ein Rollback fürchten, dass Konservative das System aus Haupt-, Realschule und Gymnasium reaktivieren, weil es angeblich leistungsstärker ist?

Diese These müsste man dann erst mal belegen. Wir können inzwischen empirisch gut belegen, dass die Berliner Gemeinschaftsschulen als konsequenteste Form des gemeinsamen Lernens erfolgreich sind – sowohl was die Entwicklung und Nutzung differenzierender Lernformen betrifft als auch bezüglich der Lernfortschritte und einer weitgehenden Entkoppelung der Lernfortschritte von der sozialen Herkunft. Wer dies genauer wissen will, der findet den vollständigen Bericht unter „Gemeinschaftsschulen Berlin“ im Netz.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen