Warum Stühle keine Kunst sind

IDEOLOGIEN Nur Europa unterscheidet zwischen Kunst und Handwerk. Seriell gefertigtes Kunstgewerbe steht noch weiter unten. Denn der aktuelle Trend geht wieder zum Unikat

VON PETRA SCHELLEN

Warum ist das eigentlich so wichtig: zu unterscheiden zwischen Kunst und Kunstgewerbe? Damit man weiß, was man auf dem Weihnachtsmarkt zu erwarten hat? Damit man nicht aus Versehen „Kunst“ zu etwas sagt, das irgendwer längst als „Kunsthandwerk“ definiert hat, und man wäre als Banause entlarvt?

Genau an diesem Punkt lässt sich gut der Drang zur Einordnung orten, der in Europa – nirgends sonst – seit dem Mittelalter herrscht und anscheinend recht langlebig ist: in dem Wunsch, klar und sauber einzusortieren, zwischen Kunst und Handwerk zu unterscheiden und sich so seiner eigenen Kennerschaft zu vergewissern. Und nicht nur das: Auch das Bedürfnis, aus dieser Unterscheidung eine Hierarchie zu folgern, spielt eine Rolle. Man möchte sehr genau wissen, was „artes mecanicae“ (mechanische Künste) und was „artes liberales“ (freie Künste) sind.

Diese Begriffe entstammen dem europäischen Mittelalter – einer Zeit, in der das Kunsthandwerk weit mehr galt als die Kunst. Damals war die Kirche der wichtigste Auftraggeber für Kultgegenstände wie Christusfiguren, Kreuze, Schreine und dergleichen, und die in Rede stehenden Künstler waren vor allem Gold-/Silberschmiede und Elfenbeinschnitzer.

Künstlerische Autorenschaft war für sie genauso unwichtig wie für die Ikonenmaler, die ihre Bilder niemals signieren. Denn Gottes Ruhm allein war wichtig, und der Mensch war bloßes Werkzeug. Angesichts dieser dreidimensionalen Präsenz kultischer Gegenstände konnte ein flaches Gemälde nur zurückstehen, und ein Maler galt nicht viel.

Das änderte sich erst in der Renaissance: Da wurde das Individuum wichtig – sowohl als Künstler als auch als Bildinhalt, und italienische Kunstkritiker und Künstler begannen systematisch, die Malerei aufzuwerten, sie als „freie Kunst“ gleichberechtigt neben Literatur und Musik zu stellen.

Das gelang so nachhaltig, dass sich die Verhältnisse umkehrten und „Kunsthandwerk“ bis heute oft ein leicht despektierlicher Begriff wurde. „Für viele Künstler bedeutet Kunsthandwerk so viel wie gebastelt“, sagt Claudia Banz vom Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.

Sie leitet dort die Sammlung „Kunst & Design – Biedermeier bis Gegenwart“ – und damit jene Epochen, in denen die Hierarchisierung von Kunst und Gewerbe schwammig wurde. Da hatten Künstler wie Joseph Maria Olbrich und Peter Behrens nämlich die Idee, nicht nur Bilder, sondern auch Tapeten, Stühle und Wandbehänge zu gestalten und so ein Gesamtkunstwerk zu schaffen und die altbekannte Grenze auch ideologisch zu überwinden. Auf der Darmstädter Mathildenhöhe entstand eine ganze Siedlung mit – auch – von ihnen gestalteten Häusern samt Interieur.

Diesen ganzheitlich-genreübergreifenden Ansatz, der derzeit allgemein im musealen Trend liegt, versucht auch das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe. Und er funktioniert: Wenn man da durch die Jugendstil- oder Bauhaus-Abteilung schlendert, sieht man einfach nicht ein, warum der ausgestellte Stuhl Kunsthandwerk sein soll, das darüber hängende Gemälde aber Kunst. „Unser Museum versteht sich natürlich als Museum für angewandte Kunst“, sagt Claudia Banz. „Aber wir haben natürlich auch Gemälde und Skulpturen und zeigen die auch. Denn man muss die Dinge ja im Kontext zeigen.“ Und da fängt man natürlich nicht an, künstlich zu trennen und Abteilungen zu schaffen wie „Mobiliar des Jugendstils“, gefolgt von „Malerei des Jugendstils“. Selbst in der Moskauer Eremitage hängen Ikonen und ihre prächtigen Silberrahmen inzwischen nicht mehr getrennt.

Doch die quasi-ideologische Trennung der Europäer reicht noch weiter: Da wird nämlich auch noch mal zwischen „Kunsthandwerk“ und „Kunstgewerbe“ unterschieden: „Kunsthandwerk“ sei ein sehr alter Begriff und beziehe sich auf alles, das von Hand gemacht sei, sagt Claudia Banz. „Kunstgewerbe“ dagegen sei im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung und der zugehörigen seriellen Produktion entstanden.

Und eben diese serielle Produktion habe inzwischen Anhänger verloren, sagt Banz: „Ich beobachte einen deutlichen Trend zur neuen Wertschätzung des Kunsthandwerks.“ Nicht nur, dass die Leute der uniformen Massenprodukte überdrüssig seien und wieder Unikate wollten. „Es gibt auch ein neues Bewusstsein für Nachhaltigkeit. Und da geht das Kunsthandwerk natürlich weit schonender mit Rohstoffen um und wählt auch sehr bewusst die Materialien aus.“

Jenseits dessen aber, glaubt sie, gehe es um mehr: „Im Zeitalter der Virtualität, wo wir das Smartphone mit einer minimalen Wischbewegung des Daumens zur Kamera, zum Fernsehen oder zur Landkarte machen können, wo das Taktile also auf ein Minimum reduziert wird, entsteht das Bedürfnis nach Anfassbarem.“ Denn die Menschen seien evolutionsbiologisch als Haptiker konstruiert – und deshalb beginnen sie, das Handwerkliche wieder zu schätzen. „Wie es für die kommenden Generationen sein wird, die mit dem virtuellen Fingerwischen aufwachsen, weiß ich natürlich nicht“, sagt sie noch.

Und wer weiß, vielleicht werden unsere Nachfahren das taktile Bedürfnis nicht mehr spüren – getreu dem Grundsatz, dass die Evolution alles abschaltet, was nicht mehr gebraucht wird. Vielleicht zählt irgendwann auch die Feinmotorik von Fingern und Händen dazu. Aber bis es soweit ist, können wir uns ja noch eine Weile über die Synthese von Kunst und Kunsthandwerk unterhalten.