piwik no script img

Seelischer Höllensturz

Entlieben ist eine Qual: Jette Steckels „Medea und Jason“ am Hamburger Thalia-Theater

Schonungslos sezierte Anziehung und eingeschweißte Anziehsachen: „Medea und Jason“ in Hamburg Foto: Armin Smailovic

Von Jens Fischer

Vergesst jede klassische Dramenstrenge und weihevolle Sprachpoesie! Schluss mit dem antikisierenden Blick auf die Argonautensage! Franz Grillparzers 200 Jahre alte Trilogie „Das goldene Vlies“ konzentriert Regisseurin Jette Steckel auf „Medea und Jason“. Szenen einer binationalen Ehe sind also im Hamburger Thalia-Theater zu erleben, zeitlos aktuell. Und erzählt vom Ende her. „Wie fühlst du dich?“, fragt Jason (André Szymanski) die abservierte Medea. Einst war er ihr Göttergatte im unhandlichen Heldenformat, nun ist er ermattet und liebesleer, will aber die Form wahren und nett sein. Medea (Maja Schöne) mag aber nicht sprechen von der gerade in ihr aufwallenden Wut. Einst emanzipierte Königstochter und weise Zauberin, hatte sie sich in die Abenteuer ihrer Leidenschaft geschmissen und sieht nun hilflos zu, wie ihr Lebensglücksgefühl peu à peu zerrinnt. Angestrengt versucht sie das zu verbergen und cool zu gucken. Sie will eine Abrechnung.

Jason aber will einfach nur Ruhe und ein Leben, nicht mehr brausend von Hormonen, sondern brav-vernünftig: Er wird die Tochter des Königs von Korinth heiraten, seines neuen Chefs. Der Karriere zuliebe. Kein Ehetherapeut kann hier noch helfen: Wenn die Sucht aufein­ander schal geworden ist und der letzte Funken Zuneigung verglimmt. „Medea und Jason“ zeigt, dass Entlieben einfach nur gehässig ist: ein schleichender, quälender Prozess.

Die Bühne öffnet sich für Rückblicke: die Vorgeschichte. Es war einmal in Kolchis ... Medea streift einen lackroten Mantel über. Sieht Jason, der gerade das goldene Vlies rauben will und bereit ist zu jeder Art von Heimtücke und Gewalt. Aber irgendetwas hat er sofort in ihr entzündet. Also ist alles egal. Beide gehen in die Vollen: Zu erleben sind zwei Körper, die einfach nur gierig aufeinander sind. Sich anspringen, klammern, umherschleudern. Bisse wie Küsse verteilen.

Der hemmungslose Tanz geht über in ein Duell versuchter Selbstbehauptungen – mit Kung-Fu-Posen, Freistilringen und atemlosem Staunen: „Wer bist du?“ Mit dieser Frage stehen beide so ratlos im Raum wie mit der Erkenntnis: „Ich bin nicht mehr ich.“ So ist die Fallhöhe für den späteren seelischen Höllensturz definiert.

Erwacht aus dem ersten Rausch wirkt Jason wie ein Schuljunge: Überwältigt von Medeas Klugheit, Stärke und wildem Sinn steht er da, versucht zu formulieren, was er empfindet, gibt auf und jagt wie Amors Pfeil auf Medea zu. Die befreit sich kurz aus der Überwältigung und versucht ihrerseits, die rohen Naturkräfte geschlechtlicher Anziehung zu erklären – vergeblich. Beide wechseln immer wieder atemberaubend von der Sprech- in die Bewegungskunst, um die Auf-, Aus- und Abbrüche ihrer Liebe zu vermitteln.

Die Szenen werden noch weiter aufgeladen von jugendlichen Alter Egos der Medea, die über die Bühne rasen. Die ist meist schummrig illuminiert. Den Soundtrack liefern Schlagzeuger Johannes Cotta und Keyboarderin Friederike Bernhardt mit melancholischer Gruselfilmmusik. Die passt prima dazu, wie da unerfüllte Erwartungen zu ersten Rissen in der Beziehung führen und irgendwann Abgründe aufreißen.

Medea hat ihr Leben der Liebe geopfert, ihren Vater dem eigenen Freiheitsdurst und ihre Heimat einem Mann – und muss erkennen: Nichts und niemand war der Anstrengungen wert. Wahrhaben will Medea das nicht. Sie kämpft um ihre Fiktion der Zweisamkeit. Lockt Jason mit Zärtlichkeitsanwandlungen. Bittet, bettelt, rammt ihren Körper herausfordernd gegen seinen. Aber da kommt kein Tropfen Leidenschaft mehr.

Wenn die beiden als Flüchtlinge in Korinth eintreffen, sind die Fronten endgültig geklärt: Der Grieche erhält Asyl, die Kolcherin wird abgeschoben – aus Angst vor ihrer Kraft und ihrem Stolz, nie die eigene Identität zu opfern für die Integration. Bezüge zur Gegenwart sind offensichtlich. Auch Florian Lösches Bühneninstallation, eine Mauer aus eingeschweißten Kleidungspaketen: Es könnten die Sachen Geflüchteter sein – oder für sie gespendete.

So schonungslos Steckel die Anziehung der Protagonisten seziert, so psychologisch sie mit Grillparzer die Verzweiflung Medeas entwickelt, so empathisch widmet sie sich auch Jason: kein tumber Egoist, sondern zutiefst unglücklich trauernd. Medea nutzt die Katerstimmung, will endlich Klarheit. Und die Kinder. Nach einem tränenreichen Verzeih-mir-Solo kreiselt sie mit dem Nachwuchs einen ekstatischen Verabschiedungstanz in den Tod. Weniger Rache- oder Wahnsinns-, eher ein mütterlicher Liebesakt. Aus der emotionalen Dynamik der Aufführung heraus ist das zu verstehen: als Erlösung von Jason. Begehren und Liebe haben ein Verfallsdatum.

Nächste Termine: Sa, 17. 11., 20 Uhr; Sa, 24. 11., 15 Uhr; So, 25. 11., 13.30 Uhr, Hamburg, Thalia-Theater

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen