Christa Pfafferott
Zwischen Menschen
: Der enge Schlaf

Foto: privat

Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentarfilmerin. Sie hat über Machtverhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

Sie verkauft zu wenig und sie schläft nicht genug. Und weil sie so müde ist, stimmen die Zahlen nicht. Wenn die Kunden das wüssten: Hier im Matratzenladen redet sie über Federkern- und Kaltschaummatratzen, Rücken- und Bauchlage. Sie ist die Expertin für Schlaf. Doch letztlich beginnt guter Schlaf im Kopf und nicht im Bett. Gegen einen unruhigen Geist kommt der Körper nicht an.

Sie denkt an früher, als sie mit den Kindern zusammen in der Ein-Zimmer-Wohnung geschlafen hat. Der enge Schlaf. Die unterschiedlichen Atemzüge der Kleinen. Da hat sie gut geschlafen. Aber sie wusste damals schon, dass diese Zeit einmal aufhören wird. Jetzt ist sie allein. Die Nächte sind zerrupft. Aufwachen um zwei, vier Uhr morgens. Sie denkt daran, was sie dem Chef sagen will. Probt Dialoge für den Tag, die sie nie nutzen wird.

Sie wuchtet die neuen Matratzen auf die Ausstellungsbetten. Sie haben gerade ein Angebot: 42 Prozent Rabatt auf die „Nova Perfect“ und die „Mediaflex“-Matratzen.

Zwei Kundinnen kommen herein. Braune Haare, ähnliche Gesichter: Mutter und Tochter. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Die Tochter zeigt auf ihrem Smartphone ein Foto von einer Matratze, auf der sie bei einem Freund gut geschlafen hat. Teures Preis-Sortiment. Okay. Sie fängt jetzt preislich ganz oben an, führt die Tochter zu den guten Gelschaum-Matratzen, nicht zu den Angeboten.

Die Tochter legt sich hin, dreht sich auf den Bauch. „Die gefällt mir“, sagt sie. Sie müsste die Tochter jetzt nach ihren Schlafgewohnheiten fragen. Aber jeder Satz fällt schwer. Die Müdigkeit zieht sie wie ein Magnet zu Boden. Auf einmal belastet es sie, sich um fremden Schlaf zu kümmern. Der Schlaf der anderen ist ihr zu nah.

Alle Menschen müssen schlafen. Und alle Menschen sprechen gern über ihren Schlaf. Deswegen wird das Matratzengeschäft immer laufen, sagt der Chef. Aber seit einiger Zeit ist es schwer.

„Darf ich Ihnen einmal ehrlich eine Frage stellen?“, fragt die Tochter. „Wie schätzen sie den Onlinehändler ein, der jetzt Testsieger ist?“ Sie kennt die Matratze. 199,– Euro, inklusive Lieferung. „Ein Standard-Modell“, antwortet sie. „Ich soll ehrlich sein? Sie verbringen die Hälfte Ihres Lebens im Bett. Gönnen Sie sich was Gutes.“ Die Mutter nickt. Die Tochter legt sich noch einmal hin. Es könnte jetzt gleich zum Abschluss kommen.

„Können Sie noch was am Preis machen“, fragt die Tochter. „Ich kann 99 Euro runternehmen. Wir haben gerade Angebotswochen.“ „Und die Lieferung?“ „Die ist auch umsonst. Aber mein Chef darf nichts davon wissen.“ Sie zwinkert der Tochter zu. Die Tochter ruckelt auf der Matratze hin und her.

Eine neue Kundin betritt den Laden. Sie macht einen Fehler: Niemals einen Kunden kurz vor dem Abschluss loslassen. Doch sie führt die andere Frau schnell zu einem Bett, ehe sie wieder aus dem Laden verschwinden kann. Als sie zur Tochter zurückkommt, hat die ihr Smartphone in der Hand: Sie schaut, sie wischt. „Gucken Sie nach der Matratze im Internet?“ „Nein, nein“, sagt die Tochter hastig. Doch sie spürt die Lüge.

Einschlafen ist wie Springen, denkt sie.

Dann lässt sie los.

Sie kommt sich immer mehr wie ein Ausstellungsladen vor: Die Kunden finden hier, aber kaufen hier nicht. Die Tochter sagt, sie müsse sich das noch mal durch den Kopf gehen lassen. Dann gehen sie und die Mutter aus dem Laden. Die andere Kundin verabschiedet sich auch.

Sie ist wieder allein. So viele Sätze umsonst. Sie strafft den Rücken. Nicht aufgeben. Sie geht zum Schaufenster, zu dem Bett mit der teuren Federnkernmatratze. Sie nimmt die Biber-Bettwäsche und bezieht damit eine Daunendecke. Sie drapiert alles. Dekorieren kann sie. Sie lacht plötzlich.

Dann läuft sie zur Ladentür und schließt ab. Sie geht zum Bett und schlüpft unter die Decke. Von draußen können die Menschen sie jetzt ­sehen. Es wirkt, als gehöre sie mit zur Dekoration. Irgendwie beruhigt sie das. Und dann plötzlich spürt sie etwas Warmes, das sie umhüllt. Einen Nebel, der immer dichter wird. Einschlafen ist wie Springen, denkt sie. Dann lässt sie los.