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Schluss mit Platzhirschen

Kommunikativ arbeiten, internationale Netzwerke errichten, Jazz in seiner Diversität präsentieren: Die neue und erste weibliche Leiterin des Jazzfests Berlin, Nadin Deventer

„Wenn es stressig wird, werde ich ganz ruhig“, sagt Nadin Deventer Foto: Roland Owsnitzki

Von Julia Lorenz

Als Nadin Deventer 16 Jahre alt war, lernte sie zu Beginn ihrer Sommerferien eine Französin kennen. Am Ende der Ferien hatte Deventer, Schülerin aus Ibbenbühren in Nordrhein-Westfalen, ihre Familie davon überzeugt, dass sie ein paar Monate bei ihrer neuen Freundin in Paris leben durfte. Austauschprogramme gab es Anfang der 90er kaum, und so schrieb Deventer Briefe an ihren Schulleiter und den Kultusminister, setzte alles in Bewegung, um ihre Idee vom Auslandsjahr umzusetzen. „Meine Eltern waren überrascht, dass man das hinkriegen kann“, sagt Deventer.

Ihr Hauruckumzug nach Paris war die erste Etappe einer Karriere, die von den Niederlanden über Belgien und das Ruhrgebiet schließlich nach Berlin-Wilmersdorf führen sollte. Dort, im Haus der Berliner Festspiele, hat Nadin Deventer nun die Leitung des Jazzfests Berlin übernommen. Sie beerbt den britischen Musikjournalisten und -produzenten Richard Williams, der dem Festival zur Modernisierung verhalf.

Zwei Wochen vor Festivalstart sitzt Nadine Deventer vor dem Haus der Berliner Festspiele. Ihre metallicglänzenden Schuhe schillern in der Herbstsonne, den kleinen Fingernagel ihrer rechten Hand hat sie grün lackiert. Statt Kaffee trinkt sie lieber Wasser. Aufgeregt? „Wenn es stressig wird, werde ich ganz ruhig“, sagt sie.

Obwohl das Festival-Leporello vor ihr auf dem Tisch liegt, obwohl es viel zu erzählen gibt über das Programm, in dem Deventer unter dem Motto „When did your heart break?“ internationale Stars mit Berliner Experimentalgruppen wie dem KIM Kollektiv zusammenbringt, spricht man dann doch zuerst über: ihr Geschlecht. Denn in der 54-jährigen Geschichte des renommierten Berliner Jazzfests verantwortet Deventer als erste Frau das Programm.

Ihre Berufung kam einer kleinen Sensation gleich – sie selbst sei erst einmal „erschrocken“, als sie davon erfuhr. „Es ist ein großer Schritt für mich. Der Druck, unter dem ich stehe, ist enorm. Und ich habe ja kaum Role Models“, sagt Deventer. Noch mit 20 hätten sie Geschlechterfragen überhaupt nicht interessiert. „Aber mit 30 habe ich angefangen, mir ernsthaft Fragen zu stellen, weil ich gesehen habe, wer so durchkommt in dieser kompetitiven Berufswelt. Mit 35 war mir total klar, wie die Mechanismen funktionieren und woran es auch liegt.“ Heute, mit 41 Jahren, kann sie behaupten, die Musikbranche aus allen Blickwinkeln zu kennen – und das, obwohl eine Karriere als Jazzkuratorin nicht unbedingt programmiert war: Zu Hause wurde zwar viel musiziert, aber kein Jazz gehört; Deventers erste Musikkassette war von a-ha. Zum Jazz fand sie durch die Musikschule von Ibbenbühren.

Nach dem Abitur belegte sie in Paris Literaturwissenschaft, wechselte nach Berlin und ging schließlich nach Amsterdam, um Europawissenschaften zu studieren. Parallel folgte sie ihren Freunden, mit denen sie in der Freizeit Jazz spielte, an die Musikhochschule – und stellte fest, dass sie nicht auf die Bühne gehört. „Mir selber reichte es nicht, was ich da fabriziere“, sagt Deventer. „Weil ich wusste, dass ich als Sän­gerin null Chancen haben werde, habe ich mich schon damals mehr um die wirklichen Talente ­gekümmert als um meine eigene Musikkarriere.“

Nach ihrem Abschluss betreute sie Kulturprojekte in ganz Europa, leitete neun Jahre lang das Netzwerk und Festival „jazzwerkruhr“, arbeitete bei der Ruhrtriennale und im Team des Projekts „Ruhr.2010 – Kulturhauptstadt Europas“.

Mit ihrem Lebenslauf repräsentiert Deventer eine Generation, die in leitenden Positionen in der Kulturbranche lange nicht vertreten war: die der Netzwerker und Freelancer, die sowohl die Freiheiten als auch die Zwänge der Selbstständigkeit in der zunehmend prekäreren Kulturbranche kennt. Im Vorstand des „europe jazz network“ war Deventer einst nicht nur die erste Deutsche, sondern auch die erste Selbstständige ohne eine mächtige Institution im Rücken.

Wer so arbeitet, kann sich Einzelkämpfertum nicht leisten. „Ich arbeite auf sehr kommunikative Art und Weise“, sagt Deventer. Ihr in­ternationales Netzwerk sei ihr wichtig, um sich auszutauschen, zu sortieren und dem Informationsüberfluss einigermaßen gerecht werden zu können.

„Mir fiel kürzlich eine Studie zur Cultural Leadership innerhalb von Institutionen in die Hand, die auch bestätigt, dass die jüngere Generation kollaborativer eingestellt ist als die vorherige“, sagt Deventer. „Das platzhirschmäßige Denken weicht. Wir lösen uns von diesem statusbehafteten männlichen Geniedenken, vom Bild des allwissenden Super­kurators.“

„Wir lösen uns vom Bild des allwissenden Superkurators“

Nadin Deventer

Mit diesem Ansatz ist Deventer die Antithese zur Westberliner Gediegenheit, die das Jazzfest lange verkörperte. Nicht allen gefällt das. Unter der Überschrift „Kann Nadin Berlin?“ heißt es etwa auf dem Portal „Jazzcity“, Deventers Berufung habe „Überraschung, aber auch Entsetzen“ ausgelöst.

Aber selbst Deventers Kritiker finden kaum etwas auszusetzen an ihrem Programm – es ist nicht nur ungewohnt politisch, sondern auch sehr detailvernarrt. Immer wieder berühren sich die drei diesjährigen Themenschwerpunkte Chicago, Europa und Afroamerikanische Musik, etwa in einem dem Jazzpionier James Reese Europe gewidmeten Projekt. Europe gründete schon 1910 den Clef Club, eine Organisation für afroamerikanische Musiker, und wurde als einer der ersten schwarzen Soldaten in den Ersten Weltkrieg geschickt. Eine Parallele zum Leben des legendären Roscoe Mitchell, der mit dem Art Ensemble of Chicago auftritt: Auch dieser Jazzvordenker war Soldat. In den 50ern verbrachte er ein paar Jahre in Heidelberg, wo er in einer Armee­kapelle spielte.

Aber nicht nur auf Stars wie Mitchell, auch auf experimentellere Acts will Deventer das Spotlight richten: Die afroamerikanische Spoken-Words-Künstlerin Moor Mother wird mit ihrer düsteren Poesie die Hauptbühne bespielen. Dort wird auch die Gitarrenvirtuosin Mary Halvorson auftreten, die ­als Artist in Residence eingeladen ist.

Das Programm trägt Deventers Einstellung Rechnung, Jazz nicht als Elitenprojekt zu verstehen. „In einen klassischen Jazzclub zu gehen, das muss man sich schon auch trauen. Da kennt ja jeder jeden!“, sagt sie. Ihr sei es wichtig, eine Einladung an diejenigen auszusprechen, die weder Jazz noch das Jazzfest auf dem Schirm haben. „Jazz ist momentan wieder ziemlich hip, was auch daran liegt, dass viele Veranstalter bewusst raus aus den dunklen Jazzkellern gehen und andere Erlebnisformen entwickelt haben. Ich glaube, dass die Musik eine sehr große Zielgruppe erreichen kann – aber nur, wenn sie in ihrer Vielfalt divers abgebildet wird.“

Noch so eine Ansicht, die Traditionalisten nicht behagen dürfte.

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