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Die Metamorphose eines Künstlers

Anthony Hüseyin wurde im konservativen Urfa geboren und lebt in Rotterdam. Er singt über das Leben und die Emanzipation als schwuler Mann

Von Elisabeth Kimmerle

Zwei Männer kommen in einen Waschsalon. Sie umgarnen einander, während der eine den anderen langsam bis zur Unterhose auszieht. Es sind intime, leise Szenen, die der Sänger Anthony Hüseyin im Video zu seinem Lied „We Make Sense Together“ zeigt. Das Video ist eine Miniatur seines Albums „The Lucky One“, auf dem Hüseyin in acht Liedern die Geschichte einer enttäuschten Liebe zwischen zwei Männern erzählt. So offen wie auf seinem jüngsten Album konnte der Künstler, der mit bürgerlichem Namen Hüseyin Badıllı heißt, nicht immer sein. Denn der 35-Jährige ist homosexuell und in der Türkei aufgewachsen. „Wenn ich meine Homosexualität kreativ verarbeiten will, muss ich gut überlegen, ob ich das tun kann. Kann ich zum Beispiel in meinem Video einen Mann küssen?“, sagt er. Badıllıs Weg ist der einer Metamorphose, in der er sich künstlerisch schrittweise sich selbst angenähert hat.

Ein sehr einsamer Ort

Hüseyin Badıllı, geboren 1982 im südosttürkischen Urfa, wuchs in einer Musikerfamilie auf. Urfa ist eine heiße, konvervative und aufgrund der lebhaften musikalischen Tradition zugleich hedonistische Stadt an der Grenze zu Syrien. Seine Familie beschreibt Badıllı ironisch als „ein bisschen schizophren, wie überall in der Türkei“. Alles sei möglich gewesen – solange man es versteckt. Im Kinderschlafzimmer hingen Poster des berühmten kurdisch-türkischen Sängers Ahmet Kaya und des Arabesk-Sängers Ibrahim Tatlıses neben Michael Jackson. Dass er selbst Sänger werden will, weiß Badıllı mit sechs Jahren. „Wie jedes homosexuelle Kind wurde ich gehänselt“, sagt er. Zu diesem Zeitpunkt versteht er selbst nicht das Gefühl, das er in sich hat. „Du versteckst etwas vor dir selbst, von dem du selbst nicht weißt, was es ist. Es ist ein sehr einsamer Ort.“

Während seines Studiums im klassischen Gesang an der Fakultät der schönen Künste in Istanbul lernt er viele schwule Künstler kennen und entdeckt, dass ein schwules Leben möglich ist. „Es war nicht mehr so angsteinflößend, schwul zu sein“, sagt er. Bis er sich in seinem Freundeskreis outet, dauert es noch bis zum Ende seines Studiums, davor hat er zwei Beziehungen zu Frauen. Er ist der Einzige in seiner Familie, der zur Universität und später ins Ausland geht. An der Codarts-Universität in Rotterdam macht er einen Abschluss in Jazz-Gesang. Badıllı will traditionelle anatolische Musik mit Jazz verbinden. „Ich war seit meiner Kindheit auf westliche Musik ausgerichtet“, sagt er, „aber irgendwann habe ich innegehalten und mich gefragt: Was ist eigentlich meine Musik? Was ist die Musik meines Herkunftsortes?“ Auf seinem ersten Album „Safran“ verflicht Badıllı 2012 seine musikalischen Wurzeln mit Jazz.

Dann brechen im Frühsommer 2013 die Gezi-Proteste aus. Badıllı verfolgt von Rotterdam aus, wie Menschen aus ganz unterschiedlichen Gruppen sich am Taksim-Platz in Istanbul versammeln. „Zu dieser Zeit wollte ich unbedingt im Gezi-Park sein, aber ich konnte nicht weg wegen meiner Arbeit“, erinnert er sich. Jede Woche fährt er zu den Solidaritätsprotesten nach Amsterdam, doch er will auch als Künstler etwas beitragen. In seinem Lied „Sayın Başkan“ (Herr Präsident) spricht er Recep Tayyip Erdoğan direkt an: „Sag mir, wer hat dich in deiner Kindheit nicht geliebt?“ Das Lied wird auf YouTube tausendfach geklickt, es trifft einen Nerv. „Da ist ein ziemlich Freud’sches Lied herausgekommen“, sagt Badıllı und lacht. Danach nimmt der Sänger „Ayna“ (Spiegel) auf, ein Lied, in dem er Hassmorde an Homosexuellen thematisiert. Es ist eine Reaktion auf den Mord an Ahmet Yıldız, der 2008 mutmaßlich von seinem Vater erschossen wurde, weil er homosexuell war. In den Monaten vor seiner Ermordung war Yıldız von seiner Familie bedroht worden. „Der Mord an Ahmet Yıldız hat mich sehr mitgenommen, ich konnte mich mit ihm identifizieren“, sagt Badıllı. „Ayna“ kritisiert Geschlechterkonstruktionen, auch in diesem Lied adressiert er die türkische Gesellschaft.

Wie gefährlich es ist, seine Homosexualität offen zu leben, selbst wenn man nicht mehr in der Türkei wohnt, muss Hüseyin Badıllı wenig später am eigenen Leib erfahren. Als er sich von einem niederländischen Fotografen für die Reihe „Get the Fuck out of your Comfort Zone“ in einem grünen Pelz, Schmuck und Unterhose ablichten lässt und das Foto auf Facebook postet, bekommt er eine Drohnachricht von seinem kleinen Bruder. Hüseyin Badıllı bekommt Angst und ruft seinen Vater an, der von nichts weiß. „Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich schwul bin. Ich habe ihm erzählt, dass das meine Arbeit ist“, sagt er. Sein Vater habe geantwortet: „O. k., ich rede mit deinen Brüdern, mach deine Arbeit, aber zeige so etwas nicht offen.“

Der Überlebensinstinkt

Wochenlang verkriecht er sich im Bett. Schließlich fordert ihn eine Kindheitsfreundin auf, seine Angst künstlerisch zu verarbeiten. Badıllı fällt das Opossum ein, ein Tier, das sich bei Lebensgefahr tot stellt. „Meine Depression war auch ein Über­lebensinstinkt aus Angst“, denkt er sich. „Ich bin im Bett und warte, bis die Gefahr vorüber ist. Aber wird die Gefahr vorübergehen?“ Er denkt den Gedanken zu Ende und entschließt sich zu einem radikalen Schritt. „Wenn ich von meinen Brüdern getötet worden wäre, wäre ich ein Fall von Hatecrime und meine Familie würde sich nicht um meine Beerdigung kümmern“, erklärt er. Menschen, die von ihrer Familie wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung umgebracht werden, werden in der Türkei in anonymen Gräbern beigesetzt. Deshalb inszeniert Badıllı auf dem Helsinki Performance Festival 2015 seine eigene Beerdigung. Um sich zu schützen und frei arbeiten zu können, tritt er unter dem Namen Anthony Hüseyin auf.

Die Inszenierung seiner Beerdigung ist Hüseyin Badıllıs Metamorphose. Von diesem Moment an verwendet er seinen Nachnamen als Künstler nicht mehr. Sein zweites Album „The Lucky One“, acht Lieder aus den verschiedenen Stationen einer amourösen Annäherung zweier Männer, veröffentlicht er als Anthony Hüseyin. Auf dem autobiografisch inspirierten Album singt er englisch. Anders als im Türkischen, das keine Personalpronomen kennt und sich deshalb einer Festlegung auf ein Geschlecht entzieht, tritt im Englischen das männliche Objekt der Begierde hervor. „Inzwischen bin ich als Künstler offen schwul. Den Künstlernamen verwende ich sowohl, um mich selbst zu schützen, als auch als Alter Ego“, sagt er.

Vergangenes Jahr trat er zum ersten Mal seit Langem in der Türkei auf. In Ankara eröffnet er sein Konzert als Hüseyin Badıllı mit seinen türkischen Liedern und spielt als Anthony Hüseyin im Haupt-Act die Lieder von seinem neuen Album. Das Publikum ist begeistert. „Das war sehr befreiend“, sagt er. „Zum ersten Mal war ich als ich selbst in der Türkei.“

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