Nirgendwo verwurzelt

„50 Jahre Deutsche Vita“ – ein Symposium erschüttert das Bild der erfolgreichen Integration italienischer Migranten

BONN taz ■ Was wären wir ohne den Italiener in uns? Provinziell, uninteressant, öde! Otto Schily gibt sich launig. Der Toscana-Mann, der seit 1955 seine Integrationserfahrung in umgekehrter Richtung vollzog, würzt sein Eingangsreferat beim WDR-Symposium „50 Jahre Deutsche Vita“ im Bonner Haus der Geschichte mit Anekdoten über den mühsamen Lernprozess deutscher Behörden im Umgang mit dem Phänomen der ersten „Gastarbeiter“.

Mit sichtlichem Vergnügen erzählt der Innenminister, wie sich das Bundeskabinett vor 50 Jahren nach Ankunft der ersten Arbeitsmigranten aus Italien mit deren Essgewohnheiten beschäftigt habe und sogar schriftlich festhielt, „dass der Italiener keine Mehlsoßen oder Säfte mag und zum Essen Wein und Wasser trinkt“. Schily führt aus, wie diese Menschen, die in der Wirtschaftswunderzeit Deutschlands heutigen Wohlstand sicherten, „als Friseure, Gastwirte oder Designer unsere Kultur bereichert und eine Lebensart geprägt haben, von der heute niemand behaupten würde, man käme noch aus ohne sie aus“.

Ein Musterbeispiel für eine gelungene Integration also? Vier Millionen Arbeitsmigranten kamen aus Italien in die Bundesrepublik, 600.000 sind geblieben. Jede(r) Dritte von ihnen lebt in NRW und gilt nach landläufiger Meinung als voll integriert. Ein fataler Irrtum, erklärt die Soziologin Ursula Boos-Nünning im Anschluss an eine eher belanglose Talkrunde über „deutsch-italienische Beziehungen“ in ihrem Vortrag „Bildungschancen und Defizite italienischer Schulkinder“. Was die Berufswünsche der dritten und vierten Generation anbelangt, möge dieses Bild mit der Realität noch halbwegs übereinstimmen, meint die Essener Migrationsforscherin. Doch was die reellen Chancen der Jugendlichen italienischer Herkunft auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt etwa in NRW betrifft, stünden die Chancen der Italiener im Vergleich zu den Deutschen sehr schlecht. Schlimmer noch: Von allen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund schneiden in der Schule die italienischen am schlechtesten ab, fand Boos-Nünning heraus. Im Vergleich zum Durchschnitt schafften nur halb so viele „Italiener“ den Hauptschulabschluss, an der Sonderschule sei diese Gruppe überproportional vertreten.

Zurückführen lassen sich diese Defizite laut Boos-Nünning auf migrationsspezifische und sozio-ökonomische Ursachen. Entgegen der weit verbreiteten Annahme lebe auch die dritte und vierte Generation italienischer Migranten nicht unbedingt in einem deutschen Umfeld, sondern in Kolonien. 80 Prozent der 16- bis 21-jährigen Mädchen wünschten sich einen Partner aus dem Herkunftsland und könnten sich, wie Boos-Nünning erfuhr, eine „Rückkehr“ gut vorstellen. Hinzu komme, dass Eltern auch heute noch ohne Rücksicht auf die Schule zwischen Italien und Deutschland pendeln und die Familien so in einem ständigen Provisorium leben. Formale Schulbildung habe bei italienischen Einwanderern, von denen in Deutschland 1974 bereits 12.000 als Selbstständige arbeiteten, geringe Bedeutung.

Und das deutsche Schulsystem tut nichts, um diese Defizite abzubauen, kritisiert die Essener Professorin. „Der Umgang mit dem Hintergrund der Kinder ist unerträglich“, so Boos-Nünning. „Wir müssen ihre Ressourcen, ihre Kompetenzen in zwei Sprachen fördern. Das ist ein Potenzial, das wir gar nicht nutzen.“

Das sieht die anschließende Runde „Vom Gastarbeiter zum Bürger“ genau so. „Die Kinder sind in keiner Sprache perfekt, in keiner Kultur richtig zu Hause“, sagt Giovanni Ferro, der als katholischer Priester im Großraum Köln arbeitet und dort, wie er sagt, die „Schattenseite der Migration“ erlebt. „Sie leben in einer Zwischenwelt.“ HENK RAIJER